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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Vlugt
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du dabei warst, für den Fall, dass sie einen Anfall bekam. Ich weiß noch, dass du schon in der Grundschule alles Mögliche über Epilepsie gelesen hast, damit du Isabel beistehen konntest. Ich hab ihr auch immer wieder gesagt, dass sie großes Glück hat, so eine Freundin zu haben. Du warst immer für sie da, hast auf sie aufgepasst, dich um sie gekümmert …«
    »Wir haben mal einen Schulausflug in einen Vergnügungspark gemacht«, sage ich. »Wir müssen ungefähr zehn gewesen sein.«
    Elsbeth lächelt. »Ich wollte Isabel erst nicht mitlassen, weil sie dort zu vielen Reizen ausgesetzt ist. Aber du hast mir versprochen, dass ihr die wilden Attraktionen auslasst und dass du Isabel daran erinnerst, zusätzlich Medikamente zu nehmen, und sie nicht allein lässt. Ich brauchte dich gar nicht darum zu bitten, du hast so was immer von selbst angeboten.«
    »Und dann durfte sie mit.«
    »Richtig, dann durfte sie mit. Später hat mir euer Lehrer erzählt, dass du den ganzen Tag wie ein Wachhund auf Isabel aufgepasst hast. Das hat ihn sehr gerührt.«

    Wieder schweigen wir und sehen uns nicht an. Die Erinnerungen hängen schwer und schmerzhaft zwischen uns.
    »Ich muss oft an Isabel denken«, sage ich, lasse aber außen vor, aus welchen Gründen. »Vor allem, seit ich in der Zeitung von dem Klassentreffen gelesen habe. Und zufällig bin ich kurz darauf jemandem über den Weg gelaufen, der eine Zeit lang mit Isabel gegangen ist.«
    »Tatsächlich?«, sagt Elsbeth.
    »Ja. Olaf van Oirschot. Kennen Sie ihn?«
    »Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich muss gestehen, dass ich über Isabels Freunde nicht immer auf dem Laufenden war. Sie hat nie einen mit nach Hause gebracht.«
    »Sie war oft in der Vijverhut , stimmt’s?«
    »Ja, ich glaube schon. Und im Mariendal , bei den Dunklen Dünen . Aber genau weiß ich das nicht, denn Isabel ist immer ihrer eigenen Wege gegangen.«
    »Sie war ziemlich beliebt. Hat die Polizei damals nicht nachgefragt, mit wem sie Umgang hatte?«
    »Doch, sicher. Die Beamten wollten ganz genau wissen, wer ihre Freunde waren, und die haben sie dann auch alle verhört. Nicht dass ich Isabels Freunde alle gekannt hätte, ich hab im Adressteil ihres Aufgabenhefts nachgesehen.«
    »Ihr Aufgabenheft? Hatte sie das denn nicht dabei, als sie verschwand?«
    »Nein, sie hatte es zu Hause vergessen. Es lag auf ihrem Schreibtisch.«
    Auf einmal bin ich ganz aufgeregt. »Haben Sie das Heft noch?«
    »Selbstverständlich, es liegt in ihrem Zimmer.« Forschend sieht sie mich an. »Warum? Willst du es sehen?«
    »Ja, bitte.«

    Elsbeth macht keine Anstalten aufzustehen, und ich spüre, dass sie auf ein paar erklärende Worte wartet. Ich stelle die Teetasse auf den Glastisch.
    »Offen gestanden, ist es so: Ich konnte mich jahrelang kaum noch an den Tag erinnern, an dem Isabel verschwunden ist, aber seit ein paar Wochen ist das anders. Die Psychologen sprechen von Verdrängung, wenn man etwas, das einen stark belastet, so nachhaltig aus seinem Denken verbannt, dass man sich an absolut nichts mehr erinnert. Ich weiß nicht, warum, aber in letzter Zeit kommen meine Erinnerungen an damals zurück.«
    In Elsbeths Augen glimmt etwas. Ich muss vorsichtig sein, darf ihr nicht zu viel Hoffnung machen.
    »Vermutlich hat es nichts zu bedeuten, aber man weiß ja nie. Ich versuche jedenfalls, mich an möglichst viel von jenem Tag zu erinnern. Vielleicht hilft das der Polizei ein wenig weiter.«
    Elsbeth sitzt regungslos auf der Stuhlkante. Sie schaut aus dem Fenster, dann auf Isabels Foto, und schließlich bleibt ihr Blick an mir hängen.
    »Kann ich dir irgendwie dabei helfen?«, fragt sie leise.
    »Ja. Ich würde gern Isabels Aufgabenheft sehen.«
    »Dann komm mit.«
    Elsbeth steht auf, geht zur Tür, und ich folge ihr. Wir steigen die Treppe hinauf in den ersten Stock, zu Isabels Zimmer. Mit angehaltenem Atem starre ich die geschlossene Tür an. Was erwarte ich? Dass ihr Zimmer so aussieht wie damals, als wir zwölf waren? An den Wänden Poster von Popstars, der Schreibtisch voller Papierstapel, aufgeschlagene Bücher auf dem Fußboden, die Korbstühle und das Tischchen, an dem wir uns Geheimnisse anvertrauten.
    Elsbeth öffnet die Tür, und wir betreten das Zimmer. Es ist anders tapeziert als früher. Die Bücher liegen nicht
herum, sondern stehen ordentlich im Regal. Die Sitzecke ist noch da, auf dem Tischchen stehen frische Blumen. Der Schreibtisch an der Wand neben der Tür ist sauber aufgeräumt. Zweifellos liegen in den

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