Klassentreffen
Schubladen Isabels Schulhefte, Stifte und andere persönliche Sachen. Trotz alldem ist das Zimmer kein Mausoleum; es wirkt sauber, hell und ordentlich und ist bloß nicht leer geräumt worden.
Elsbeth zieht eine Schublade auf und nimmt ein dickes Heft heraus. »Es sind viele Fotos drin«, sagt sie mit nervösem Lachen. »Vielleicht erkennst du die Leute ja noch.«
»Darf ich es mit nach Hause nehmen?«
Schockiert sieht sie mich an. »Mitnehmen!?«
»Schon gut«, sage ich rasch. »Das war eine dumme Frage. Ich schau’s mir hier an.«
Am liebsten würde ich das Heft allein, in aller Ruhe, ansehen, aber Elsbeth setzt sich auf die Bettkante und lässt mich nicht aus den Augen.
Langsam blättere ich um und sehe mir jede Seite genau an. Mein Blick gleitet über den Adressteil vorn. In Isabels kleiner sauberer Handschrift stehen die Namen, Adressen und Telefonnummern von Klassenkameraden untereinander. Auch die von Robin und Olaf und anderen Jungs, die ich nicht kenne.
Ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche und schreibe sie ab. Olafs Adresse zuerst; ich unterstreiche sie.
Dann kommen die Fotos. Isabel als strahlender Mittelpunkt einer Gruppe von Mädchen und Jungen, die ich allesamt nicht kenne. Sie haben sich die Arme um die Schultern gelegt und stehen wie eine geschlossene Front irgendwo im Grünen. Die Jungs wirken alle wesentlich älter als die Mädchen.
Isabel an der Bar mit Robin, beide gucken sich wie ertappt um. Isabel, die Olaf küsst. Isabel in inniger Umarmung mit einem Fremden. Dann ein Passfoto von Olaf. Auf der
nächsten Seite lacht mich wieder Olafs Gesicht an, nur jünger eben, und er hat nasses Haar … Im Hintergrund ist das Meer zu sehen.
Ich blättere zum 8. Mai. Dort sind ein paar Hausaufgaben notiert, darunter steht in kleinen, ordentlichen Buchstaben: DD 1O.
Ich sehe Elsbeth an. »Was heißt DD zehn?«
»Ich weiß es nicht«, sagt sie. »Anfangs hat die Polizei vermutet, dass sie um zehn eine Verabredung mit jemandem mit den Initialen DD hatte. Aber in ihrem Freundeskreis war keiner, auf den das gepasst hätte. Später sind sie dann davon ausgegangen, dass es Dunkle Dünen heißt, aber das war eben auch nur eine Vermutung.«
»Hat man denn dort gesucht?«
»Ja, eine Suchstaffel mit Hunden war dort. Sie haben auch einen Hubschrauber mit Infrarotkamera eingesetzt, aber das bringt nur was im offenen Gelände, auf dem Meer, am Strand oder in den Dünen. Die Bereitschaftspolizisten haben sozusagen Hand in Hand den Wald durchkämmt, aber gefunden haben sie nichts. Selbst wenn man ganz dicht nebeneinander geht, übersieht man vielleicht doch etwas. Und wenn man den ganzen Tag sucht, ist man zwar anfangs noch konzentriert, aber nach ein paar Stunden wird man nachlässiger. Deshalb haben sie die Suchaktion eine Woche später wiederholt, aber auch das hat nichts gebracht.«
Ich höre nur mit halbem Ohr zu, hänge meinen Gedanken nach.
»Ich verstehe nicht, warum sie sich um zehn verabredet hat. Da war sie doch noch in der Schule. Wir hatten erst so gegen zwei aus. Und ich bin mir ganz sicher, dass sie nicht geschwänzt hat.«
»Ich weiß. Die Polizei hat nachgeforscht und erfahren, dass Isabel die ganze Zeit über im Unterricht war. Vermutlich
hatte sie sich um zehn Uhr abends mit jemandem verabredet, aber wer das war, werden wir wohl nie erfahren.«
Ich betrachte die akribische Handschrift, den senkrechten Strich und die runde Null dahinter. Mit Sicherheit hat das etwas zu bedeuten. Ich habe Isabel schließlich über eine Verabredung nach der Schule reden hören, bei den Dunklen Dünen . Nur mit wem, das habe ich nicht gehört. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte besser hingehört.
»Zehn«, sage ich. »Was mag das bedeuten? Hat Isabel denn Tagebuch geführt?«
Elsbeth schüttelt den Kopf. »Nein, so was war nicht ihr Ding. Dazu war sie viel zu ungeduldig, zu beschäftigt, immer unterwegs zu irgendwas oder irgendjemandem.« Sie lächelt wehmütig. »Sie hatte sehr viele Freundschaften, die sie alle gepflegt hat. Das war denn auch das Hauptproblem nach ihrem Verschwinden; wir hatten absolut keine Ahnung, wo wir sie suchen sollten.«
Ich sehe noch immer die Seite vom 8. Mai in Isabels Heft an. Allmählich dämmert mir, was sie mit der Zehn gemeint hat. Ich erstarre, und es gelingt mir nur mit größter Mühe, nicht damit herauszuplatzen. Es hat keinen Sinn, Elsbeth aus der Fassung zu bringen oder ihr irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen. Ich greife nach meiner Tasche und stehe
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