Klassentreffen
Hartman führt mich ins Wohnzimmer. Mein Blick wandert durch den Raum – viele dunkle Möbel, das Klavier, auf dem Isabel und ich immer gespielt haben – und bleibt an einem gerahmten Foto von Isabel an der Wand hängen. Das letzte Schulfoto.
»Magst du Tee?«, fragt Elsbeth hinter mir.
Ich drehe mich um und nicke lächelnd. »Ja, sehr gern.«
Unaufgefordert setze ich mich und bin froh, dass sich Elsbeth in der Küche zu schaffen macht, bis der Tee fertig ist.
Sie muss sich wohl erst mal fassen. Jedenfalls kann ich mich so in aller Ruhe umschauen und die Erinnerungen ein wenig ordnen, die auf mich einstürmen.
Mit einem Tablett, auf dem eine gläserne Teekanne, zwei Tassen und ein Tellerchen mit Gebäck stehen, kommt Elsbeth ins Zimmer. Sie geht vorsichtig, und ich schiebe rasch ein paar Zeitschriften auf dem Couchtisch beiseite. Mit einem Lächeln stellt sie das Tablett ab. Ihre Hand zittert leicht beim Einschenken.
»So eine Überraschung! Ich bin noch ganz verdattert«, sagt sie wieder.
Ich höre die Frage in ihrer Stimme.
»Ich war zufällig in der Gegend«, sage ich. »Warum ich hierher gefahren bin, weiß ich selbst nicht so genau. Es war einfach ein Impuls.«
»Ich freu mich, dass du da bist«, sagt Elsbeth. »Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie geht’s dir denn so?«
Mit dem ersten Schluck Tee verbrenne ich mir den Mund. Tränen schießen mir in die Augen, und ich stelle die Tasse hastig ab.
Elsbeth mustert mich aufmerksam. Eine angespannte Stille liegt im Raum.
Wir fangen gleichzeitig an zu reden und müssen lachen. Mit einer Handbewegung bedeutet mir Elsbeth, fortzufahren. Also erzähle ich von meinem Studium und von der Arbeit. Von meiner kleinen Wohnung in Amsterdam. Sie lächelt mir freundlich zu, aber ich merke, dass ihr jedes Wort wehtut.
Auf einmal kann ich nicht mehr an mich halten. Ich beuge mich vor und lege die Hand auf ihren Arm. »Und wie geht es Ihnen? Wie geht es hier?«, frage ich eindringlich. Mein Blick hält ihren fest. Das Lächeln verschwindet.
»Ach je«, sagt sie. »Was soll ich sagen?«
Jetzt hat sie Tränen in den Augen. Ich drücke sanft ihren Arm.
»Anfangs hat man ja noch Hoffnung. Man steht morgens mit dem Gedanken auf: vielleicht heute … Aber die Tage gehen vorbei, und es fällt immer schwerer, morgens aufzustehen. Und all die vielen Stunden mit Tätigkeiten zu füllen, die einem sinnlos erscheinen. Aber das Leben geht nun mal weiter, also hab ich mich eben zusammengerissen und sei es auch nur wegen Charlot. Aber bei allem, was man tut, denkt man daran. Sogar beim Einkaufen halte ich nach Isabel Ausschau. Wenn mich jemand fragt, wie viele Kinder ich habe, weiß ich nicht, ob ich eins oder zwei sagen soll. Und jedes Jahr kommt wieder ihr Geburtstag und der Tag, an dem sie verschwunden ist …« Ihre Stimme bricht. Sie blickt in eine Vergangenheit, die so voller Schmerz und Verzweiflung ist, dass man es nicht in Worte fassen kann.
Wir trinken Tee und hängen unseren Gedanken nach. Von der Wand aus schauen Isabels dunkle Augen uns an. Sie scheint mich direkt anzusehen, und ich kann nicht verhindern, dass mein Blick immer wieder zu ihrem Foto hinüberwandert.
Das bleibt auch Elsbeth nicht verborgen. »Jedes Mal, wenn ich ihr Foto anschaue, hab ich das Gefühl, dass sie mich sieht«, fährt sie fort. »Sie schaut mich an und sagt: ›Gebt ihr etwa auf? Lebt ihr einfach ohne mich weiter?‹ Ich traue mich nicht mehr, etwas Schönes zu unternehmen, und habe Schuldgefühle, wenn ich mal lache und einen kurzen Moment lang nicht an sie denke. Als ob sie nicht gleich darauf wieder meine Gedanken beherrschen würde.«
Ich weiß absolut nicht, was ich sagen soll.
»Und solange man keine Gewissheit hat, hofft man weiter, dass sie eines Tages wieder vor der Tür steht«, sagt sie.
»Haben Sie denn nie mehr was gehört?«
»Nein, nichts. Aber der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Der Polizist, der die Fahndung damals geleitet hat, hält mit uns Kontakt, und neulich war wieder ein Aufruf in Vermisst !.«
»Hat das was gebracht?«
»Na ja, es haben sich unglaublich viele Leute gemeldet, aber etwas Konkretes hat sich nicht ergeben.«
»Es tut mir so Leid …«
Elsbeth richtet sich auf und schenkt Tee nach. »Dass es dir gut geht, ist jedenfalls schön. Das freut mich sehr«, sagt sie, um einen lockeren Tonfall bemüht. »Es ist nett, dich mal wieder zu sehen. Du warst Isabel immer eine treue Freundin. Wenn sie zur Schule fuhr, war ich beruhigt, dass
Weitere Kostenlose Bücher