Klassenziel (German Edition)
Mein Puls normalisiert sich nur langsam wieder. Maxi tätschelt mir unauffällig die Schulter, ohne den Blick von unserem Geschichtslehrer abzuwenden, und ich atme tief durch.
V ielleicht hatte ich insgeheim die ganze Zeit damit gerechnet, dass das passieren würde. Ich war jedenfalls nicht wirklich überrascht, als meine Eltern beim Abendessen sagten, wir müssten «mal reden». Stattdessen hatte ich dasselbe Gefühl wie damals mit zehn oder elf, wo ich monatelang aus Angst vor dem Zahnarzt verdrängt hatte, dass mein Backenzahn ein Loch hatte, und dann beim Biss in einen Donut vor Schmerzen aufschrie. Es war der Moment, in dem ich wusste, dass ich den Tatsachen ins Auge sehen musste – und dass das kein Spaziergang sein würde.
Allein schon die feierlich-betretenen Mienen meiner Eltern drückten mir fast die Luft ab. Nick lehnte sich betont lässig auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Dieselbe Abwehr empfand ich innerlich auch, aber ich gab mir wenigstens Mühe, es meinen Eltern ein bisschen leichter zu machen. Vielleicht konnte ich was retten, wenn ich ein braver Junge war.
Sie drucksten rum und räusperten sich und sagten immer wieder: «Es hat nichts mit euch zu tun», statt endlich zum Thema zu kommen. Dann sagte mein Vater: «Ich zieh für eine Weile aus. Also, nur vorläufig. Das ist alles noch … nur … äh, provisorisch.»
Nick tat gelangweilt.
«Und wieso?», fragte ich mit einem beschissenen hysterischen Unterton. Mein Vater guckte hilfesuchend zu meiner Mutter rüber. Die wusste nicht, wo sie ihren Blick einrasten lassen sollte. Am Ende entschied sie sich für ein nervöses Flackern zwischen meinem Bruder und mir. «Weil ich … weil ich Papa darum gebeten habe.»
Dominik schnaubte und schüttelte den Kopf.
«Wieso das denn?», quiekte ich.
«Wir wollen uns mal eine Auszeit nehmen», sagte mein Vater.
Meine Fresse. Gibt es eine abgedroschenere Phrase als diese? Auszeit! Ich wurde so wütend auf meinen Vater, dass ich ihm am liebsten meinen Teller ins Gesicht geworfen hätte. Es stimmte also! Er hatte irgendeine Geliebte (noch ein Wort, das ich nicht leiden kann) und wollte uns verlassen. Denn das weiß ja wohl jeder, dass Auszeit dasselbe heißt wie Aus.
Ich rannte hoch in unser Zimmer und verkroch mich in meinem Bett. Da quälte ich mich mit tausend ungestellten Fragen rum und wartete, dass Nick endlich kam. Vielleicht hatte der ja eine Antwort. Aber Nick blieb zum ersten Mal die ganze Nacht über weg, wahrscheinlich war er bei Marek. Ich war nicht nur verstört und verzweifelt, sondern auch furchtbar enttäuscht, dass er nicht da war, wenn ich ihn am dringendsten brauchte. Wie konnte er zu einem Außenstehenden, einem völlig Fremden gehen, während unsere Familie auseinanderbrach?
[zur Inhaltsübersicht]
26
I n den letzten beiden Stunden hätten wir eigentlich Musik, aber der Lehrer ist krank, und der Unterricht fällt aus. Obwohl Musik mein Lieblingsfach ist, hält sich meine Trauer in Grenzen. Heute war auch so schon der gefühlt längste Schultag meines Lebens. Ich bin fix und alle. Während ich meinen Schreibblock verstaue, kommen Justus und Finn zu mir. Deren Namen hab ich mir schon gemerkt. Sie sitzen auch in der letzten Reihe, aber weiter zur Tür hin.
«Na? Ist der Brehm jetzt dein neuer Lieblingslehrer?», grinst Finn, der Kleinere und Dunklere von den beiden.
«Ich liebe ihn», sage ich.
«Tun wir alle», meint Justus. Er ist der totale Mädchentyp: groß, blond, sportlich, kantiges Kinn. «Aber warte mal ab, bis du die erste Klausur bei dem geschrieben hast!»
«Das hört sich nicht gut an», sage ich besorgt.
«Ist es auch nicht!»
Wir gehen gemeinsam raus, Maxi folgt uns stumm.
D ominik kam von da an die meisten Tage erst richtig spät nach Hause, oder er blieb gleich ganz weg. Tja, ich hatte ihm immer Freunde und eine abwechslungsreichere Freizeit gewünscht, aber dabei hatte ich wohl überhaupt nicht geschnallt, dass Nick für mich eine feste Größe gewesen war – jemand, auf den ich immer zählen konnte. Wahrscheinlich hatte ich gedacht, er würde trotzdem noch jeden Abend an seinem PC sitzen, wenn ich kam, und mir dann freudestrahlend erzählen, was er heute mit wem alles unternommen hatte. Oder ich hatte einfach gar nichts gedacht, was die wahrscheinlichere Variante ist.
Mein Bruder war jetzt nur noch ein Gast in unserem Haus – oder eher ein Untermieter. Er benutzte das Badezimmer, zog sich frische Klamotten an und
Weitere Kostenlose Bücher