Klassenziel (German Edition)
die Sache ran. «Darf ich den Song mal hören?»
Dominik warf mir einen skeptischen Blick zu, dann drehte er sich wieder zu seinem Bildschirm. «Gleich.» Er ließ mich warten und rückte damit die Machtverhältnisse zurecht. Nach ein, zwei Minuten zog er den Kopfhörerstecker aus seinem Computer und spielte den Song ab.
Es fing mit einem stampfenden Geräusch an, das mich an eine große Maschine erinnerte – eine Getreidemühle oder ein Betonmischer oder so was. Dann setzte eine Bassdrum ein, die den Beat vorgab. Und danach kam eine heisere Männerstimme, die mehr oder weniger mit zwei Tönen auskam.
Von dem Text verstand ich nicht auf Anhieb alles. Aber ich konnte ihn auf Nicks Bildschirm mitlesen. Es ging um einen Typen, der mit dem Blut seines letzten Opfers verschmiert ist, seiner Freundin ein Gewehr an den Kopf hält, sie auf einem Grab vögelt und immer wieder meint, dass sie heimlich total darauf abfährt. «Feed your anger», hieß der Refrain. Ich hatte so den Verdacht, dass Nick mit seinem Referat vor allem den Ärger seines Englischlehrers nähren würde.
«Bist du, äh, sicher …», setzte ich an, als der Betonmischer verstummt war. Dann fing ich noch mal neu an: «Gar nicht schlecht. Ich meine, ziemlich geiler Beat.» Ich zwang mich zu einem Lächeln. «Aber ich weiß nicht, ob das jetzt so der ideale Text für den Englischunterricht ist.»
«O doch», sagte Nick entschlossen. «Ist er. Glaub mir.» Er stöpselte die Kopfhörer wieder ein, setzte sie auf und machte mit seinem Referat weiter. Ich blieb noch kurz unsicher neben ihm stehen, aber er beachtete mich nicht mehr.
Ein paar Tage später fragte ich: «Was hat eigentlich der Dückers zu deinem Referat gesagt?»
Dominik war gerade dabei, einen Stapel CDs ins Regal zu räumen. Ein paar fielen ihm runter. Er bückte sich, fluchte leise und stopfte die CDs dann ungeduldig in irgendein Fach. «Was für ein Referat?»
«Na, über diesen Combichrist-Song.»
Kurze Pause.
«Ich hätte angeblich zu leise gesprochen», sagte Dominik dann mit so viel unterdrückter Wut, dass ich eine Gänsehaut kriegte.
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23
I ch habe die ersten drei Kapitel und die Hälfte von Kapitel vier geschafft, als es zur Mittagspause läutet. Außerdem hab ich rausgefunden, dass die Blonde mit dem Billie-Haarband Emily heißt und ihre getoastete Sitznachbarin Jacqueline. Und noch drei, vier andere Namen hab ich mir gemerkt. Ich würde mir am liebsten eine Liste anlegen, aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll, ohne dass es jemand mitkriegt.
Die meisten gehen in der Schulmensa essen. Maxi nimmt mich mit und zeigt mir, wo ich mir Essensmarken besorgen kann – allerdings nur freitags, deshalb gibt er mir eine von seinen. Wir stellen uns in die Schlange an der Ausgabe. Mit Kohlrouladen auf Kartoffelbrei und je einem Glas Apfelschorle setzen wir uns an einen langen Tisch.
Wegen der vielen fremden Gesichter und des mörderischen Geräuschpegels fühle ich mich extrem unwohl. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass ich irgendwann hier hingehöre, dass ich anderen über die Tische hinweg freche Sprüche zurufe, dass ich die meisten zumindest schon mal gesehen habe und jeden Dritten mit Namen kenne.
Und dass mich keiner mehr neugierig anstarrt. Das stört mich im Moment fast am meisten. Ich komme mir vor, als würden sie jedes Detail an mir genau beobachten und mich dann auf irgendeiner komplizierten Punkteskala bewerten. Haare: vier Punkte. Klamotten: sieben Punkte. Essverhalten: drei Punkte. In Begleitung von Maxi-King: ein Punkt Abzug.
Manche glotzen mich an und reden dann ganz offensichtlich über mich. Ich habe furchtbare Angst, dass sie mich vielleicht wiedererkannt haben, aus irgendeinem dieser Zeitungsberichte oder aus dem Fernsehen. Es ist erst wenige Monate her. Wer ein gutes Gesichtergedächtnis hat und eins und eins zusammenzählen kann, kommt mir auf die Schliche. Was soll ich bloß machen, wenn jemand mich direkt darauf anspricht? «Sag mal, bist du zufällig aus Viersen ?»
I ch war echt alles andere als ein Stubenhocker. An den meisten Nachmittagen hatte ich Termine: Fußballtraining, Bandprobe, Gitarrenunterricht. Am PC verbrachte ich nicht besonders viel Zeit. Trotzdem hatte ich mir ein Facebook-Profil eingerichtet und mich mit allen Freunden vernetzt, die ich auch in der wirklichen Welt hatte. Dazu kamen dann immer mehr, die ich nicht persönlich kannte. Das ist so was Ähnliches wie bei einem Gerücht: einer sagt’s
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