Klassenziel (German Edition)
fassen, was aus unserer Familie geworden war.
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52
D er alberne Streit von gestern Abend ist vergessen. Mein Vater war noch nie nachtragend, und ich bin es auch nicht. Wir frühstücken zusammen wie jeden Morgen, seit ich hier wohne. Ich erzähle von meiner nächtlichen Beobachtung. «Die sind hier eine totale Plage», sagt mein Vater. «Die kommen sogar ins Haus rein, wenn man die Terrassentür offen lässt. Falls dir mal welche begegnen, musst du immer drauf achten, dass sie einen Fluchtweg haben, sonst kann’s gefährlich werden.»
«Wieso Fluchtweg? Die kann man doch essen!»
Als ich das Haus verlasse, ist der Nachbar von gegenüber gerade fluchend dabei, die Mülltonne wieder aufzurichten und die verstreuten Abfälle einzusammeln. Sein Vorgarten sieht aus, als wäre da ein Pflug durchgefahren. Die Ziersträucher sind umgeknickt und niedergetrampelt. Und es kommt mir so vor, als würde ein schwacher Hauch von Maggi in der Luft hängen.
Es ist ein toller Spätsommermorgen, mit schräg einfallenden Sonnenstrahlen, Dunst und ein paar Spinnenfäden, die sich vom Wind durch die Gegend tragen lassen. Auf den Grünflächen liegt noch Tau. Der Himmel hat eine unheimlich kräftige Farbe. An so einem Morgen kann ich eigentlich nicht anders als optimistisch sein. Was für Probleme sollte es geben, die ich nicht in den Griff kriegen könnte? Ich pack das schon. Ganz bestimmt.
T ürenknallen, Schweigen und Schreien wurden unsere wichtigsten Kommunikationsmittel. Jeder gegen jeden. Keiner war bereit zu verzeihen. Meine Mutter hasste uns wegen unserer Reaktion auf Uwe, wir hassten sie wegen ihrer Lügen, ich hasste Nick wegen der Hähnchenkeule, Nick hasste mich wegen Billie.
Wenn es irgendwie ging, betraten wir das Haus nur zum Duschen, Schlafen oder Wäschewechseln. Ich übernachtete abwechselnd bei Ramon oder bei Till, Nick flüchtete wahrscheinlich zu Marek, und wo meine Mutter war, konnten wir uns ja denken – jedenfalls nicht bei Andrea in Krefeld.
Sie hatte bestimmt vorgehabt, uns mit Spaghetti Carbonara auf die erste Begegnung mit ihrem Lover vorzubereiten, um sich den Alltag ein bisschen zu vereinfachen. Am Anfang ist so eine heimliche Affäre vielleicht ganz witzig, aber nach acht Monaten, da liegen die Nerven allmählich blank, nehme ich an. Für sie wäre es jetzt bequemer gewesen, wenn sie ihren Scheiß-Uwe nach Lust und Laune in unser Haus hätte mitnehmen können. Oder ohne fadenscheinige Ausreden zu ihm gehen.
Das hatte sie sich allerdings ordentlich vermasselt. Weder Nick noch ich waren bereit, diesen Typen auch nur über die Schwelle zu lassen. Nicht dass wir uns darüber ausgetauscht hätten – aber ich war fest entschlossen, es ihm so schwer wie nur möglich zu machen, und ich hätte meine Gitarre darauf verwettet, dass Nick das genauso sah.
Leider muss ich zugeben, dass ich auch neugierig auf ihn war. Das ist mir echt peinlich, und es kostet mich einige Überwindung, das einzugestehen. Von dem Tag an, da meine Mutter über ihren blöden Uwe geredet hatte, wollte ich ums Verrecken wissen, wer das wohl war. Ich hatte lange gegrübelt, aber in unserem Bekanntenkreis, selbst wenn man ihn echt weit fasste, gab es niemanden, der so hieß – mit Ausnahme eines Zivis in meinem Kindergarten damals, aber der war noch keine dreißig.
Wobei natürlich nicht auszuschließen war, dass meine Mutter sich so einen Milchbubi angelacht hatte. Sie konnte sich alles Mögliche an Land gezogen haben, vom Austauschschüler bis zum inkontinenten Tattergreis. Was weiß man schon wirklich über die eigene Mutter? Nichts. Das hatte ich jedenfalls jetzt gelernt.
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53
I ch treffe Justus und Finn schon an der Heerstraße, wo sie gerade aus dem Bus steigen. Die beiden machen wohl alles gemeinsam. Ich schließe mich ihnen an. «Hast du Ethik schon gemacht?», fragt Finn.
«Ja, hab ich. Aber ich hab ganz schön lange gebraucht.»
«Boar, ich weiß echt überhaupt nicht, was ich da schreiben soll, Mann», jammert Justus.
Aus den Augenwinkeln sehe ich Kenji. Ich weiß nicht, wie ich ihm begegnen soll nach dieser komischen Nachricht von gestern, deshalb gucke ich schnell wieder weg und tue so, als hätte ich ihn nicht bemerkt. Da steht er plötzlich vor mir. «Hey! Du willst eine Band gründen?» Von seinem linken Ohr baumelt eine schwarze Feder.
«Wer, ich? Äh … ja. Vielleicht, mal sehen.» Seine Augenbrauen sind ganz feine Bögen, wie mit einem Pinsel gemalt. Er erinnert
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