Klassenziel (German Edition)
Schuljahr kein Bein mehr auf den Boden.
D ominik war nicht der Typ, der schnell verzeiht. Da kam er ganz nach meiner Mutter. Kann sein, dass er gar nicht mehr an Billie interessiert war – aber dass ich ihm meine einmalige Knutschaktion mit ihr verschwiegen hatte, nahm er mir trotzdem noch übel. Als Kind hatte er manchmal tagelang nicht mit mir gesprochen, nur weil ich sein Handtuch benutzt oder die letzten Fruit Loops gegessen hatte. Ich machte mir also keine Illusionen über unser Verhältnis und ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg, um ihn nicht noch weiter zu reizen.
Trotzdem kriegte ich mit, dass es ihm schlechtging. So was spürt man, wenn man sich seit fünfzehn Jahren ein Zimmer teilt. Dafür braucht man nicht mal miteinander zu sprechen. Und ich hatte auch so eine Ahnung, dass das nicht nur was mit Intrigen-Billie zu tun hatte.
Ich sah Nicks Gesicht, wenn er aus der Schule nach Hause kam und seinen Rucksack in die Ecke schleuderte. Ich starrte auf seinen gebeugten Rücken, wenn er über irgendwelchen Hausaufgaben brütete. Ich hörte ihn leise vor sich hin fluchen, wenn er abends seine Bücher für den nächsten Tag packte.
Nick hatte zwei blaue Briefe bekommen, einen in Englisch und einen in Mathe. Jetzt waren es nur noch knapp drei Wochen bis zu den Zeugnissen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er seine Noten verbessert hatte. Wie denn auch? Er war ziemlich oft nicht zu Hause, und wenn, dann verbrachte er die meiste Zeit mit dem Auslöschen von feindlichen Lebensformen.
Meine Mutter hatte damals, als die Briefe gekommen waren, ein bisschen rumgemeckert und gesagt, er müsste jeden Tag eine Stunde zusätzlich lernen. Soweit ich wusste, hatte Nick das nicht ein einziges Mal getan. Und meine Mutter hatte es auch nicht ein einziges Mal überprüft. Da war Uwe wohl wichtiger gewesen.
Ich stand zwar in keinem Fach auf der Schwelle zu einer Fünf, aber ich hatte in Geschichte zwei ziemlich schlechte Klausuren geschrieben. Und weil ich mich darüber ärgerte und keine Vier auf dem Zeugnis haben wollte, nahm ich ab und zu das Geschichtsbuch mit ins Bett und las vor dem Einschlafen diesen öden Mist über die Weimarer Republik. Bis zum nächsten Morgen konnte ich mir das einigermaßen merken und im Unterricht irgendeinen schlauen Spruch loslassen. Daran merkte der Fahnenbruck, dass ich lernte. Und deshalb gab er mir mündlich eine Zwei. Also, eigentlich ist es ganz leicht.
Aber Dominik war eben anders. Die schlechten Noten machten ihn eher trotzig und wütend. Ich glaube, für ihn waren sie so was wie eine persönliche Beleidigung und eine Missachtung seiner Intelligenz. Und so war es schon immer gewesen: Wenn Nick beleidigt war, verschränkte er die Arme vor der Brust und schwieg. In der Schule kommt so was natürlich nicht besonders gut.
Jetzt sah er wahrscheinlich seine Felle wegschwimmen. Sitzenbleiben war einfach keine Option. Ich meine, das ist doch total würdelos, wenn man plötzlich mit den Kleinen in einer Klasse ist, auf die man immer verächtlich herabgesehen hat. Und wenn die dann auch noch in der absoluten Überzahl sind und man sich bei denen einschleimen muss, um überhaupt ein soziales Leben zu haben.
Wahrscheinlich gibt es dann auch noch ein paar Lehrer, die einen immer wieder daran erinnern, dass man das doch alles schon gehabt hat und eigentlich längst wissen müsste, womit sie einen noch mehr zum Trottel machen. Und die anderen, die ehemaligen Klassenkameraden, die ziehen ihr Ding durch und schweben auf einer ganz anderen Umlaufbahn, an die kommt man gar nicht mehr ran. So ungefähr muss sich das wohl anfühlen, wenn man sitzenbleibt. Ich konnte verstehen, dass Nick Angst davor hatte.
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55
B enjamin, kannst du mal kurz das sechste Kapitel für uns zusammenfassen?»
Meinen Namen zu hören ist wie ein Elektroschock. Und das, obwohl ich es hab kommen sehen. Ich sitze total in der Scheiße, Alter. «Ähm, ja … Nee. Tut mir leid. Ich hab das Buch nicht gekauft.»
«Du hast das Buch nicht gekauft», wiederholt der Wiesner langsam und tut fassungslos.
«Ja, genau. Tut mir echt leid. Ich hab’s einfach vergessen.» Gut möglich, dass es ein paar Ausreden gibt, mit denen ich den Kopf aus der Schlinge ziehen könnte, aber mir fallen nun mal keine ein.
«Und das sagst du erst jetzt, wo ich dich aufrufe. Hast du gehofft, es würde nicht auffallen?»
Das ist doch wieder mal typisch Lehrer. Egal was man sagt, selbst wenn man gnadenlos ehrlich ist und sich
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