Klassenziel (German Edition)
Seite. Und dann sehe ich den Grund dafür: Eine ganze Rotte Wildschweine hat sich da in der Auffahrt versammelt! Ich zähle fünf Stück, jedes einzelne ein furchteinflößender Brocken von gut hundert Kilo. Das eine stellt sich auf die Hinterbeine und stößt die Tonne um, der Deckel fliegt auf, die Abfälle quellen raus, und die Biester wühlen begeistert grunzend darin rum.
Hab ich jetzt meinen Deal gewonnen? Ich hab ja nicht gesagt, dass es ein Mensch sein muss, den ich sehe. Nur irgendjemanden . Also ist die Bedingung erfüllt, beschließe ich. Grinsend sehe ich den Schweinen bei ihrem Festessen zu, bis ich wieder müde genug bin, um ins Bett zurückzukehren.
J a, also, den Uwe, den kenn ich jetzt seit acht Monaten», sagte meine Mutter. Sie hatte Dominik und mich mit Spaghetti Carbonara geködert, die wir beide gern aßen. Acht Monate? Also schon lange bevor mein Vater ausgezogen war? Ich guckte zu Nick rüber und erkannte, dass er genau dieselbe Überlegung anstellte. «Ich weiß, was ihr jetzt denkt», fuhr meine Mutter fort und bewies dann auch direkt, dass sie komplett danebenlag: «Midlife-Crisis und so. Aber das stimmt nicht. Das mit dem Uwe, das ist wirklich was Ernstes. Es hat nichts mit Bestätigung zu tun oder dass mir langweilig war oder so. Ich hab mich einfach, tja, in ihn verliebt. Zack, bumm.»
Dominik und ich verzogen bei dieser Formulierung synchron das Gesicht. «Und Papa hast du dann zack, bumm rausgeschmissen», ergänzte ich.
«Ich hab ihn nicht rausgeschmissen», erwiderte meine Mutter scharf. «Er ist freiwillig ausgezogen. Er war sehr fair und sehr vernünftig und hat das gemacht, was er für das Richtige hielt.»
Ich sah seine Wohnung in Berlin wieder vor mir: das Exil eines Vertriebenen. Meine Augäpfel fingen an zu schmerzen.
«Ihr habt die ganze Zeit so getan, als wenn er eine andere hätte!», rief Nick wütend.
«Haben wir nicht! Das habt ihr euch höchstens selbst zusammengereimt!»
Mein Bruder machte eine hastige Bewegung, als ob er auf den Tisch schlagen wollte, aber dann krampfte er seine Faust bloß um die Gabel und starrte stirnrunzelnd auf seinen Teller. Ich wünschte mir – nur ganz kurz –, dass er irgendwas tun würde, irgendwas Lautes, Explosives. Ich konnte die Spannung fühlen, die sich in ihm aufbaute und kein Ventil fand. Aber dann konnte ich mir nicht länger Gedanken um ihn machen, weil ich ja genauso wütend war. Offensichtlich hatten meine Eltern eine Show abgezogen und uns die ganze Zeit bewusst im Unklaren gelassen.
«Und wozu sollte das jetzt gut sein? Wieso hast du uns nicht gleich gesagt, dass du fremdgegangen bist?», stieß ich hervor.
«Fremdgegangen!», wiederholte meine Mutter angewidert. «Was ist das denn für ein Wort!» Ich starrte sie bloß an, und sie sagte mit veränderter Stimme: «Wir wollten das für euch so, äh, so leicht wie möglich machen.»
«Oh, ja klar!», schrie ich. «Das ist wirklich total locker-leicht für uns, vielen herzlichen Dank! Wann kommt denn dieser Uwe endlich, damit wir unserem neuen Papi um den Hals fallen können?»
«Jamie!», quietschte meine Mutter wütend.
«Vielleicht können wir ja in den Sommerferien alle gemeinsam ans Meer fahren!», schrie ich weiter. «Wir sind doch alle vernünftige Menschen! Und ihr habt es uns ja so leicht gemacht! Danke, vielen, vielen Dank!» Ich schmiss einen Löffel quer durchs Esszimmer und presste mir dann die Serviette vors Gesicht, damit meine Tränen nicht zu sehen waren.
Ein Stuhl rumpelte, und ich hörte meinen Bruder wegrennen. Ich ließ die Serviette wieder sinken. Meine Mutter ging den Löffel holen, als würde er größeren Schaden nehmen, wenn er nicht sofort wieder auf den Tisch gelegt wurde. «Na bitte, das hast du ja toll hingekriegt», sagte sie und deutete mit dem Kinn auf Nicks leeren Stuhl.
«Wie bitte? Ich ? » Ich lachte kurz und hysterisch auf. «Ach, verdammt. Das tut mir jetzt aber echt leid, dass ich die Stimmung versaut hab.»
Ich krallte mir den Löffel und wollte ihn noch mal schmeißen, aber meine Mutter bewies gute Reflexe und umklammerte mein Handgelenk, und so entstand ein extrem peinliches, unwürdiges Gerangel um diesen beschissenen Löffel, bei dem schließlich mein Trinkglas umfiel, das halb voll Wasser gewesen war. «Du benimmst dich wirklich absolut unmöglich, Jamie!», schrie meine Mutter und rauschte ebenfalls ab. Ich blieb alleine an einem nassen Tisch mit drei fast unberührten Portionen Spaghetti sitzen und konnte nicht
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