Klassenziel (German Edition)
Hastig packe ich meine Gitarre wieder ein und marschiere los. Das Haus ist nicht schwer zu finden. Im Erdgeschoss ist eine Apotheke, und zu der gehört auch der Keller, den wir als Probenraum nutzen dürfen. Der Inhaber der Apotheke ist der Vater von unserem Drummer.
Vor der Eingangstür bleibe ich stehen und checke die Uhrzeit auf meinem Handy. Drei vor fünf. Wenn ich jetzt reingehe und Kenji ist noch nicht da – was soll ich denn dann sagen? Nee, ich trau mich nicht. Ich werd mal lieber hier warten, in der Hoffnung, dass er noch kommt. So nervös wie jetzt war ich schon lange nicht mehr. Irgendwie sind mir mein Optimismus und mein Vertrauen in andere Menschen abhandengekommen.
Ein paar Minuten später entdecke ich Kenji auf der anderen Straßenseite. Seinen Bass transportiert er in einer gepolsterten Tasche, die größer zu sein scheint als er selbst. Er ist in Begleitung von jemand ungeheuer Dünnem, ungefähr so groß wie ich, mit langen, glatten, blond gefärbten Haaren und, wie ich beim Näherkommen feststelle, offenbar auch asiatischer Herkunft.
Kenji umarmt mich, dann sagt er: «Das ist mein Cousin Toshi. Unser Keyboarder. Und das hier ist Benjamin, unser neuer Gitarrist.» Ich schüttele Toshi die Hand, er lächelt schüchtern. Der Hauseingang ist nicht verschlossen, die Tür lässt sich einfach aufdrücken. Ich folge den beiden durch eine weitere Tür, eine Treppe runter und einen langen, kaum beleuchteten Kellergang entlang. Dann stehen wir vor einer grauen Feuerschutztür mit schwarzer Kunststoffklinke. Sie ist abgeschlossen.
Den Schlüssel hat der Apothekersohn. Wir hören seine Schritte auf der Treppe, noch ehe wir ihn den Gang runterkommen sehen. Der Drummer ist offenbar der Älteste von uns, er könnte um die zwanzig sein. Ein großer, kräftiger Typ mit einem freundlichen Hundegesicht und dunklen Locken ohne erkennbaren Haarschnitt. Kenji stellt ihn mir als Moritz vor.
K urz darauf wurden wir unter Polizeischutz aus dem Haus gebracht. Das war echt gruselig, da rausgehen zu müssen, ganz nah an diesen Leuten vorbei, die brüllten und spuckten und sich total hysterisch aufführten, so als hätten wir jahrzehntelang ganz Viersen tyrannisiert und wären jetzt endlich entmachtet worden. Sebastian Görlitz ging dicht neben mir und hatte seine Hand auf meinen Rücken gelegt, und ich zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht und drückte mir den Rucksack gegen die Brust, den natürlich wieder eine Polizistin für mich gepackt hatte.
Wir bekamen zwei Doppelzimmer in der dritten Etage, gleich nebeneinander. Ohne überhaupt darüber reden zu müssen, teilte ich mir eins mit meinem Vater, und meine Mutter packte ihr Köfferchen nebenan aus. Uwe war erst mal nach Hause gefahren. Ich fragte mich, ob er wohl später wiederkommen und hier übernachten wollte. Und wie dick wohl die Wand zwischen unseren Räumen war. Und ob ich meinen Vater irgendwie ablenken musste, wenn die beiden da nebenan loslegten. Aber dann wurde mir klar, dass die im Moment bestimmt was anderes im Kopf hatten als Sex. Vielleicht will man überhaupt nie wieder Sex haben, wenn man seinen Sohn verloren hat und der sich außerdem als Massenmörder rausstellt.
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M ir quellen fast die Augen aus dem Kopf. Dieser Probenraum ist wirklich ein Traum und viel größer, als ich gedacht hatte! Das Schlagzeug steht auf einem kleinen Podest, es gibt drei Verstärker, einen Ständer für Toshis Keyboard und zwei Mikros. Der Raum ist fensterlos und damit so gut wie schalldicht, und die Wände sind komplett mit einem dicken, wattierten Stoff bezogen, um die Akustik zu verbessern. Außerdem steht in der linken Ecke eine Couchgarnitur mit einem kleinen Tischchen, zwar alt, aber gut erhalten. «Okay, ich zieh sofort ein», sage ich, als ich aus dem Staunen raus bin, «wer von euch kriegt die Kaution?»
Wir schließen unsere Instrumente an und machen einen ersten Soundcheck. Das klingt gewaltig hier drin. Ich wünschte, Melody und Sophie würden da auf der Couch sitzen.
«Benjamin? Alles okay?», fragt Kenji.
Ich wische mir mit dem Handrücken über den Augenwinkel. «Ja, klar. Lass uns loslegen.»
W ir blieben fast eine Woche im Hotel, weil sich die Lage einfach nicht entspannte. Und die konnte sich auch nicht entspannen, denn es wurden immer mehr Details bekannt von dem, was Dominik getan hatte. Inzwischen stand fest, dass er siebzehn Menschen erschossen hatte: fünfzehn Schüler und zwei Lehrer. Sieben Personen lagen noch im
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