Klassenziel (German Edition)
scheiß drauf! Das ist die Gelegenheit, von der ich immer geträumt habe!
Ich rufe Maxi an und erzähle ihm von der Bandprobe und was sich mittlerweile alles daraus entwickelt hat. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt zuhört. Im Hintergrund höre ich den Fernseher laufen. Er gibt so gut wie keine Antworten außer «Hm» oder «Aha». «Was sagst du denn dazu?», dränge ich ihn schließlich. «Ist das nicht total geil?»
«Also, ich hab eigentlich nicht so viel Ahnung von Musik», erwidert er. Hä? Ahnung von Musik? Was hat das denn damit zu tun? «Klingt toll, ja», fügt er wenig überzeugend hinzu, weil ich nichts sage. Es entsteht eine weitere unangenehme Pause. Dann sagt Maxi: «Du, ich muss jetzt auflegen. Meine Mutter ruft mich.»
Ich hab nichts gehört außer den Stimmen aus dem Fernseher, aber was soll’s. «Na klar. Wir sehen uns Montag.»
Z war lauerten keine Journalisten mehr vor unserem Haus, aber das heißt nicht, dass sie das Interesse an uns verloren hätten. In den Zeitungen und in einigen Fernsehsendungen wurde unglaublicher Scheiß über Dominik verzapft. Zum Beispiel über die Spiele, die er auf seinem Rechner gehabt hatte. In mehreren Sendungen wurden Ausschnitte daraus gezeigt, natürlich immer nur die Stellen, wo irgendwelche Kreaturen niedergemetzelt wurden. Ich frage mich, woher die wissen konnten, was auf Nicks PC gewesen war.
In der Zeitung wurden Ausschnitte aus einem Gedicht abgedruckt, das er angeblich verfasst haben sollte:
I know you like it when I’m covered in blood
On your knees with a gun to your head
I let you know that your no means yes, babe
And your tears are fake
Ich konnte mir echt nicht vorstellen, dass Nick Gedichte geschrieben haben sollte, noch dazu auf Englisch. Er hatte Englisch voll gehasst. Und außerdem kamen diese Zeilen mir irgendwie bekannt vor, ich wusste nur nicht, woher. Ich gab einen Teil davon bei Google ein, und – na klar, das war der Song von Combichrist, «Feed your anger», den er im Englischunterricht vorgestellt hatte. Aber welcher Zeitungsleser wusste das schon? Alle dachten jetzt, Dominik hätte sich so einen Mist abgewichst. Und jeder dachte bestimmt auch: Na, kein Wunder.
Dann wurden unsere Familienverhältnisse breitgetreten. Dass meine Eltern sich vor kurzem getrennt hatten. Da stand tatsächlich in der Zeitung, mein Vater wäre wegen einer anderen Frau nach Berlin gezogen. Ich war so wütend, dass ich die Zeitung in kleine Fetzen zerriss. Später bin ich dann zum Kiosk gegangen und hab sie mir noch mal gekauft, weil ich die Hoffnung hatte, ich hätte mich getäuscht. Stand aber immer noch dasselbe drin.
In einer anderen Zeitung wurde berichtet, Dominik wäre schon mehrfach wegen Belästigung einer Mitschülerin aufgefallen. Er hätte ihr nachgestellt und sich sogar auf ihre Geburtstagsparty eingeschlichen. Und er hätte möglicherweise den ganzen Amoklauf nur durchgeführt, um sie zu töten. «Sybille E. hatte Eltern und Lehrern wiederholt erzählt, wie unheimlich Dominik van A. ihr war. Hätte das blutige Verbrechen, bei dem siebzehn Menschen ums Leben kamen, verhindert werden können, wenn man die Angst der Schülerin ernster genommen hätte?»
Ich hätte eigentlich jeden Tag Zeitungen zerreißen und Fernseher aus dem Fenster schmeißen müssen. Es gab nicht einen einzigen Bericht, in dem keine Lügen oder wenigstens Falschinformationen verbreitet wurden. Manchmal waren es nur Kleinigkeiten wie das Alter meiner Eltern, dann wieder völlig groteske, unwahre Behauptungen.
Vielleicht hätten wir nicht alle Interviewanfragen so rigoros abblocken sollen, dann hätten die wenigstens nichts erfinden müssen. Andererseits konnten weder meine Mutter noch ich mit den Journalisten reden. Wir guckten bloß fassungslos zu, wie sie über uns redeten.
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N ach Moritz’ Anruf hab ich keine Ruhe mehr zum Chillen. Ich erkläre meinem Vater, was da auf mich zukommt, und er hat Verständnis, dass ich lieber hochgehen und mich mit meiner Gitarre beschäftigen will. Way up kann ich aus dem Gedächtnis nachspielen. Zum Glück fällt mir so was nicht schwer. Ich übe meine Riffs und das Solo so lange, bis ich meine Fingerkuppen nicht mehr spüre.
Gegen halb elf kommt mein Vater hoch und hört mir eine Weile zu. «Du hast dich enorm weiterentwickelt», sagt er. «So hast du vor einem halben Jahr noch nicht gespielt.» Ich glaube, er kann sich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie gut mir das tut! Obwohl ich mich
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