Klassenziel (German Edition)
seltener. Ich glaube, sie hatten gemerkt, dass aus mir nichts mehr rauszuquetschen war. Und von Nicks PC waren sie offenbar auch enttäuscht, weil der außer ein paar ziemlich kranken Shooter-Games überhaupt keine Hinweise lieferte. Der einzige Erfolg war, dass sie über seine E-Mails rausfanden, wer Marek war und wo er jetzt wohnte. Dadurch konnte irgendwann geklärt werden, woher die Waffe gekommen war.
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I ch hätte vielleicht lieber nicht bis halb vier morgens mit Kenji texten sollen, denn schließlich hatte mein Vater mir ja vorher gesagt, dass wir heute früh zum Gartencenter fahren würden. Jetzt bin ich natürlich vollkommen platt, und Kopfschmerzen hab ich auch. Beim Frühstück pampe ich ihn ein bisschen an deshalb. Aber dann tut es mir wieder leid, und deshalb helfe ich später widerspruchslos bei der Auswahl von Heckenschere, Laubrechen und Blumenzwiebeln, auch wenn ich weiß, dass alles, was wir kaufen, jede Menge anstrengende Gartenarbeit nach sich zieht.
Mit anderen Worten, der Samstag ist komplett ausgefüllt mit Heckeschneiden, Blumenpflanzen und Essenkochen, und kurz vor sechs fällt uns auf, dass wir kein Brot mehr im Haus haben, also müssen wir auch noch zum Supermarkt, wo wir dann schon wieder einen Einkaufswagen vollschaufeln.
Es ist nicht unbedingt so, dass mir das alles einen Riesenspaß macht. Aber es fühlt sich trotzdem gut an, weil es was mit Heim und Familie und Normalität zu tun hat, und ich glaube, da hab ich ein bisschen Nachholbedarf. Als wir die Lebensmittel in die Schränke packen, stelle ich mir einfach vor, meine Mutter würde nebenan mit Andrea telefonieren und Nick wäre oben in unserem Zimmer, würde Crysis 2 spielen und aufs Abendessen warten.
Am Ende sitzen wir doch wieder nur zu zweit vor dem Fernseher, legen die Füße auf den Couchtisch und balancieren die Teller mit den belegten Broten auf unseren Bäuchen. Wir trinken direkt aus der Flasche, und weil wir nach dem halbwegs gesunden Abendbrot nicht satt sind, teilen wir uns noch eine Tüte Paprikachips. Insofern ist es auf jeden Fall besser, dass Mama nicht da ist.
I ch hab übrigens heute meine Kündigung abgegeben», sagte meine Mutter und legte die Schreiblernhefte aus Dominiks erstem Schuljahr auf dem Couchtisch ab. Ich starrte sie an. «Meinst du die Bibliothek?»
«Ja. Ich kann da doch nicht mehr hingehen! Bis ersten September lasse ich mich weiter krankschreiben.»
Meine Mutter hatte ihren Job echt geliebt. Sie hatte Lesungen, Filmabende und Kinderveranstaltungen organisiert, ein neues Katalogsystem eingeführt und das Lesecafé betreut. Ich konnte gar nicht fassen, dass sie da aufhören wollte. Aber irgendwie hatte sie natürlich recht. Das Gequatsche der Leute wäre nicht zu ertragen. Wahrscheinlich würden plötzlich Kunden da auftauchen, die nicht mal in der Lage waren, ein Buch richtigrum zu halten, nur um die Mutter des Amokläufers zu sehen.
«Wir können hier nicht bleiben», fuhr meine Mutter fort.
«Wie meinst du das?», fragte ich mit einem Kribbeln im Nacken.
«Hier in Viersen. Wir müssen woandershin ziehen.»
Ich schwieg. Mein erster Impuls war, heftig zu protestieren. Das hier war mein Zuhause, ich war hier geboren und hatte nie an einem anderen Ort gewohnt. Ich wollte nicht weg! Andererseits hatte ich meine wichtigsten Freunde verloren, ich konnte nicht mehr zurück an meine Schule, und bei jedem Schritt an Dominik und seine siebzehn Opfer erinnert zu werden war so oder so nicht allzu prickelnd. Viersen war verbrannte Erde.
«Uwe hat sich letztes Jahr von seiner Frau getrennt. Er wohnt im Moment bei seiner Mutter. Aber wir wollen uns jetzt was Gemeinsames suchen. Er hat eine Stelle in Stuttgart in Aussicht.»
Mein Kopf ruckte herum. «Stuttgart?», sagte ich ein bisschen zu laut.
«Tja, warum nicht?»
«Nee. Nee, ernsthaft mal. Stuttgart? Das geht gar nicht.»
«Warum? Was ist denn mit Stuttgart?»
«Das sind Schwaben !», sagte ich. Antarktis wäre gegangen, Simbabwe auch, aber Stuttgart? Auf keinsten.
«Außerdem zieh ich ganz sicher nicht mit … Uwe zusammen. Ich kenn den Typen doch überhaupt nicht!»
Meine Mutter seufzte und klopfte mir aufs Knie. Das war ein bisschen überraschend. Ich hatte gedacht, sie würde sich jetzt mit mir streiten. Aber eigentlich war ich froh, dass sie das nicht tat. Wir hatten wohl beide nicht genügend Kraft dafür übrig.
«Dann zieh ich lieber zu Papa», erklärte ich. Meine Stimme zitterte beim letzten Wort vor
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