Klassenziel (German Edition)
Generationen unter dem Altersdurchschnitt, und entsprechend verhalten ist die Kellnerin, die unsere Bestellungen aufnimmt. Wahrscheinlich ist sie überrascht, dass wir nicht lauter lachen als die anderen, niemanden anpöbeln und auch keinen Ghettoblaster auf den Tisch stellen, um das dezente Hintergrundgedudel mit HipHop zu bekämpfen.
Der Kuchen ist umwerfend. Ich habe Moccacremetorte bestellt, Kenji hat Champagnersahne, Luna isst Himbeer-Marzipan und Becky Mandarine-Joghurt. Jeder probiert bei jedem. Man kann nicht genug davon kriegen. Wir bestellen alle noch ein zweites Stück. Mittlerweile werden wir von der Kellnerin sogar schon vorsichtig angelächelt, und die alten Damen an den Tischen rundherum wiegen wohlwollend die dauergewellten weißen Köpfe. Eine, die schräg hinter mir sitzt, beugt sich zu mir rüber und sagt leise: «Da haben Sie sich aber was vorgenommen, junger Mann!»
«Meinen Sie wegen der Torte?»
Sie grinst mich verschwörerisch an. «Nein. Ich meine die drei Damen!»
M ein Vater kam auch nicht besonders gut klar mit der ganzen Situation, das war jedenfalls mein Eindruck. Manchmal brach er am Telefon in Tränen aus. Da hätte ich am liebsten immer direkt aufgelegt. Nicht weil ich ein unsensibles Arschloch bin – ich glaub, das bin ich nicht –, sondern weil ich total überfordert war. Ich weiß ja nicht, ob andere Leute in meinem Alter in solchen Situationen cool bleiben und die richtigen Worte finden. Ich jedenfalls nicht.
Ich dachte an Tills Bruder. Wie ging der wohl mit seinen Eltern um? Oder die jüngere Schwester von Billie? Und all die anderen Geschwister der «Toten von Viersen», wie sie in manchen Zeitungen genannt wurden? Die würden Nick für den Rest ihres Lebens hassen, dass er sie in so eine Lage gebracht hatte. Dass sie jetzt ihre Eltern über den Verlust eines Kindes hinwegtrösten mussten, obwohl sie selbst wahrscheinlich halb durchgedreht waren vor Trauer.
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D ie meiste Zeit reden wir natürlich über die Cosmic Shocks und das bevorstehende Konzert, denn das ist nun mal das, was mich im Moment am meisten beschäftigt. «Hör mal», sagt Kenji, «das ist zwar ein Szeneladen, aber wir spielen erst gegen Mitternacht. Da sind bestimmt die meisten schon besoffen. Und selbst wenn dir die Gitarre aus der Hand fällt, die merken das gar nicht.»
Ich weiß, das sagt er nur, um mich zu beruhigen. Stattdessen kommt gleich die nächste Panikattacke über mich. «Gegen Mitternacht? Alter, wir sind fünfzehn! Die lassen uns da gar nicht rein!»
«Fünfzehn?», sagt Luna. «Ich dachte, ihr wärt zu viert.»
Obwohl ich nach zwei Stücken Torte das Gefühl habe, mir könnte jederzeit der Hosenknopf wegspringen, wollen die anderen unbedingt noch einen Bubble Tea trinken gehen. Ich weiß gar nicht genau, was das ist. Der Laden sieht aus wie eine Cocktailbar, und die Auswahl an Tee und Poppings ist genauso unüberschaubar wie der Passantenstrom draußen auf dem Gehweg. Ich lasse Becky für mich auswählen und stelle dann fest, dass das Zeug süchtig macht und ich noch einen zweiten Becher brauche, Hosenknopf hin oder her.
Die anderen sagen, es wäre kein Alkohol in dem Bubble Tea. Aber sicher bin ich mir da nicht. Ich fühle mich so warm und leicht und unbekümmert, als hätte ich einen sitzen. Außerdem möchte ich gerne jemanden berühren oder berührt werden. Versuchsweise lege ich mal den Arm um Luna und sage ihr, wie toll ihr dieses schwarze Kleid mit den ganzen Ösen und Schnüren steht. Sie freut sich, lässt mich an ihrem Strohhalm saugen und legt den Kopf auf meine Schulter.
Als wir aus dem Bubble-Tea-Laden rauskommen, bilden wir wieder eine untergehakte Viererkette. Wir sind unbesiegbar. Inzwischen genügen bestimmte Stichworte, um uns zum Lachen zu bringen, oder wir gucken alle vier in dieselbe Richtung und fangen an zu grinsen, und jeder weiß genau, was die anderen gerade denken.
Meinetwegen könnte dieser Sonntag ewig dauern. Tut er aber nicht. Meine Freunde wollen Meret im Krankenhaus besuchen, und ich hab noch eine ganze Menge Hausaufgaben zu erledigen und Blumenzwiebeln einzupflanzen. Außerdem muss ich üben. Vielleicht hat Moritz die CDs schon vorbeigebracht.
Wir trennen uns da, wo wir uns getroffen haben, mit einer Gruppenkuschelviererumarmung, die einige Blicke auf sich zieht. Ich küsse alles, was sich meinem Mund entgegenbewegt. Kenjis Lippenpiercing ist auch darunter. In der S-Bahn winke ich so lange, bis ich meine Freunde nicht
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