Klassenziel (German Edition)
auf den Auftritt freue wie ein Schnitzel, bin ich auch furchtbar nervös.
Was ist, wenn ich das Ganze total versiebe? Ich könnte schuld sein, dass wir auf der Bühne mit faulen Tomaten und vergammelten Eiern beworfen werden. Ich könnte den Ruf der Cosmic Shocks so gründlich ruinieren, dass sie sich auflösen müssen. Und dass ihr Name zum Synonym für peinliche Loser wird.
Bei den Burst Frenchies war ich immer der Beste, da hätten höchstens Till oder Ramon uns blamieren können. Ich war der einäugige Trash-König vom Niederrhein. Und jetzt bin ich ein kleines Licht in der Welthauptstadt der Kreativen. Eine überambitionierte Niete. Ein Hochstapler mit Aufblasego. Ja, ich geb’s zu: Ich hab die Hose voll.
I ch kam mit meiner Mutter jetzt irgendwie besser klar als vorher. Auf der einen Seite ist das schon traurig, ich weiß. So als hätte Nick sterben – und vorher noch siebzehn Unschuldige abknallen – müssen, damit wir uns näherkommen. Ganz so war es aber wahrscheinlich doch nicht. Nur dass wir jetzt eben viel mehr Gemeinsamkeit spürten. Die Trauer um Nick, das Gejagtwerden durch die Presse, die Empörung über all die Lügen, die man über uns erzählte, die Angst vor Pöbeleien in der Öffentlichkeit, die Sorge um unsere Zukunft. Wir entwickelten ein bisschen mehr Verständnis füreinander, weil wir dieselben Probleme hatten.
Trotzdem war es die meiste Zeit so, dass ich mich um sie kümmern musste, nicht umgekehrt. Meine Mutter war so fertig, sie weinte total viel, und sie machte sich Vorwürfe. «Ich hätte das doch merken müssen», sagte sie immer wieder. «Ich hab einfach nicht genau genug hingesehen.» Insgeheim konnte ich ihr da nicht widersprechen. Sie war tatsächlich ein bisschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Aber das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Stattdessen tröstete ich sie jedes Mal.
Irgendwann sagte meine Mutter: «Jamie, ich hab noch mal darüber nachgedacht. Und ich will nicht, dass du zu Papa ziehst. Ich hab schon mit Papa gesprochen. Er sieht das genauso.»
Ich fühlte mich so verraten und hintergangen, dass mir überhaupt keine Antwort einfiel. Innerlich hatte ich immer noch gehofft, in ein paar Wochen nach Berlin zu ziehen. Das war so was wie das berühmte Licht am Ende des Tunnels gewesen. Oder wenn man wegen eines schlimmen Traums die halbe Nacht wach gelegen hat und dann die erste Amsel singen hört. Ein Zeichen der Hoffnung sozusagen.
«Ich kann jetzt nicht noch jemanden verlieren», stieß meine Mutter verzweifelt hervor. Das Schlimme war: Ich konnte nichts dagegen sagen.
Ich rief meinen Vater an und fragte ihn, ob er mich wirklich nicht haben wollte.
«Jamie, bitte! Das hat doch damit nichts zu tun!»
«Womit denn dann?»
«Mensch, denk doch mal an deine Mutter! Wenn du jetzt auch noch weggehst, hat sie in kürzester Zeit ihre ganze Familie verloren!»
Das war natürlich richtig. Aber wieso musste ich deswegen den Kopf hinhalten?
«Die hat doch ihren Uwe!», bockte ich.
«Das ist nicht dasselbe», erklärte mein Vater. Als wenn ich das nicht selber wüsste.
«Wieso wird immer alles so gemacht, wie sie das will?», fauchte ich. Mein Vater seufzte nur.
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W ie versprochen erwarten Kenji, Luna und Becky mich direkt auf dem Bahnsteig der S75 an der Haltestelle Zoologischer Garten. Es ist nicht selbstverständlich für mich, dass ich zur Begrüßung umarmt, geküsst und anschließend von beiden Seiten untergehakt werde. Sogar meine Freunde in Viersen waren nicht so anhänglich. Wenn ich mit Ramon und Till Arm in Arm über den Remigiusplatz geschlendert wäre, hätten wir am nächsten Tag vermutlich einen Termin beim Schuldirektor gehabt.
«Ist das hier echt der Bahnhof Zoo? Ich meine, der aus dem Film?», frage ich und sehe mich staunend um. Da stehen zwar ein paar ziemlich kaputte Typen im Eingangsbereich, aber die sind alle schon alt. Ansonsten ist es hauptsächlich dreckig. Vor dem Bahnhofsgebäude patrouillieren Polizisten mit umgehängten Maschinengewehren. Und ein Stück weiter endet die Stadt abrupt in einer gewaltigen Baustelle. Meine Freunde ziehen mich trotzdem in diese Richtung, an eingerüsteten Fassaden, Zäunen und Absperrgittern entlang. «Ist das die Gedächtniskirche?» – «Ist das der Ku’damm?» – «Ist das das KaDeWe?»
Ich bin fast erleichtert, als wir im Café ankommen. Hier oben, ein paar Etagen über der Flanierstraße, ist es wohltuend ruhig. Wie erwartet liegen wir gut zwei
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