Klausen
nächsten Papierkorb. Ja, es herrschte überall eine aggressive Stimmung. Gegen Mittag war in der Wohnung von Josef Gassers Eltern eine ganze Gruppe von Leuten anzutreffen. Nie zuvor hatten sich so viele Menschen in der kleinen Wohnung der Gassers versammelt. Auch hierüber wurde später jede Menge erzählt, ebenso detailliert wie lückenhaft. Paolucci stand fast die ganze Zeit am Erkerfenster, strich sich über den Bart, machte sich hin und wieder Notizen und trank sehr viel Kaffee. Sonja Maretsch saß meistens auf der Couch und schwieg vor sich hin, einmal aber stand sie auf und telefonierte aus irgendwelchen Gründen mit der Piemonteserin auf Branzoll. Christian Maretsch war ebenfalls zugegen und erzählte von den Meßwerten, die sie ermittelt hatten. Er trug einen kleinen Verband am Kopf. Paolucci stellte ihm immer wieder irgendwelche Fragen, sie gerieten mitten im Gespräch auch über irgend etwas in Streit, die anderen konnten allerdings nicht verstehen worüber, denn die beiden sprachen trotz ihrer Erregung möglichst leise. Kati war nur kurz zugegen, saß aber die ganze Zeit bloß da und hielt sich beide Hände, zuFäusten geballt, vor den Mund, derweil sie die Ellbogen auf die Tischplatte, hinter der sie saß, gestützt hielt. Sie verharrte fast eine Viertelstunde in dieser Pose und schien in großer Eile über die verschiedensten Dinge nachzudenken, dann verließ sie die Runde und ging ins Hotel, vielleicht aufgrund der Anwesenheit Paoluccis, er schaute nämlich immer wieder zu ihr herüber, und Kati fühlte sich nicht in dem Zustand, sich beobachten zu lassen. Paolucci verlor dann auch für einen Augenblick die Fassung, als sie sich verabschiedete, und schaute sie vollkommen erschrocken an, wagte aber kein Wort zu sagen und drehte sich schnell wieder weg, um aus dem Erker hinaus auf die Gasse zu starren. Andere waren ebenfalls zugegen: Frau Finozzi, Zanetti, der die ganze Zeit eigenartigerweise kein Wort sagte, auch nicht über den Vortrag, den man für den Abend erwartete, es war ihm sogar unangenehm, darauf angesprochen zu werden; aus irgendwelchen Gründen kam später auch Stadtrat Valli dazu, der inzwischen offenbar eine große Vorliebe für Josef Gasser entwickelt hatte. Selbst Perluttner erschien und nahm mit seinem Stock in der Hand auf der Bank neben der Tür Platz. Frau Gasser saß auf dem bereits erwähnten Stuhl. Sie saß die ganze Zeit auf diesem Stuhl und schien im Augenblick schockiert oder zumindest sehr nachdenklich zu sein. Sie begrüßte die Eintretenden kaum, das fiel allgemein auf, und ließ alles um sich herum geschehen. Einmal schaute sie auf Paolucci, der nach wie vor am Erkerfenster stand. So, sagte sie wie abwesend,hat damals der Josef ebenfalls am Erkerfenster gestanden, bei der letzten Begegnung. Nervös war er gewesen, verschwiegen. Das war der Grundstein allen Übels, sagte sie. Man verstand nicht, was sie mit Grundstein allen Übels meinte, aber weil sie das alles in einem so seltsamen Ton sagte, fragte man lieber nicht nach. Einige wollten auch schon wieder gehen, aber Frau Gasser sprang plötzlich auf, lief eilig zu den Betreffenden hin und zog sie wieder auf ihren Platz zurück. Das wirkte auf alle beklemmend. Anschließend setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. Gassers Mutter wiederholte jetzt sogar fast wörtlich all die Gedanken, die sich Gasser damals über diesen Stuhl gemacht hatte, und bestätigte allen gegenüber diese Gedanken, aber sie gab ihnen eine verblüffende psychologische Wendung. Sie behauptete nämlich plötzlich, der Aufstieg ihrer Tochter habe ganz natürlicherweise bewirkt, daß sie selbst sich immer weiter zurück- und sogar bewußt herabgesetzt habe. Deshalb habe sie diesen Stuhl vom Speicher geholt. Der Triumph Katis sei dadurch erst vollkommen (durch diesen Stuhl). Katis Aufstieg sei um so höher, je tiefer sie, die Mutter, sich herabwürdige, und zwar genau dahin, wo sie hingehöre. Ihr Josef habe das gesehen, aber er habe an dem Vorgang nicht teilhaben wollen (leider). Der Aufstieg seiner Schwester habe ihn verdorben, sagte sie. Sie, die Mutter, habe der Aufstieg nicht verdorben, sie habe den Stuhl vom Speicher geholt. Sie sei jetzt das, was sie immer gewesen sei, und allen Klausnern habe Kati klargemacht durch ihrenAufstieg, was sie schon alle immer gewesen seien, nämlich nichts. Lachend: Deshalb habe sie, die Gasser, auch ihren Mann geheiratet, deshalb habe sie die Kinder bekommen, deshalb wohne sie hier in dieser kleinen Wohnung, deshalb
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