Klausen
geschehe überhaupt alles, aus demselben Grund, und zur Vollständigkeit habe sie sich an diesen Stuhl erinnert, ihn heruntergeholt vom Speicher und sich daraufgesetzt. Sie habe mit der Zeit sogar eine Lust bekommen, auf diesem Stuhl zu sitzen, schon morgens beim Aufwachen denke sie an ihn, den Stuhl, auf den sie sich setzen werde, und von diesem Stuhl aus werde sie die Gassen betrachten, durchs Erkerfenster, wie ihr Sohn, wie Gasser etcetera . Das sei ihre größte Lust und einzige Freude. Die Frau schaute während dieser Ausführungen sehr seltsam drein, so daß man glauben konnte, sie habe sich überhaupt nicht unter Kontrolle und falle von einem Extrem ins andere, denn plötzlich lobte sie ihren Sohn über alle Maßen und sprach von seiner völligen Unschuld, nur um ihn im nächsten Augenblick noch viel heftiger zu verurteilen. Dabei klammerte sie sich an den besagten Stuhl. Alles das war überaus armselig und gereizt, geradezu krankhaft erschien es den meisten. Offenbar hatten sie die Vorfälle und die Beschuldigungen, die man gegen ihren Sohn hervorbrachte, zutiefst verstört, und sie erniedrigte sich möglicherweise nur deshalb so dermaßen vor allen, weil sie glaubte, daß ihr Sohn genau dasselbe tue und an seiner Niedrigkeit verzweifle. Das war natürlich völliger Unsinn. Sonja sagte Frau Gasser, daß ihreAusführungen über den Stuhl und die Nichtigkeit und Kati zu nichts anderem als dazu führen werden, daß man ihrem Sohn genau solche Ursachen für sein Handeln unterstellen wird (wobei sie sich selbst fragte, was sie mit dem Begriff Handeln genau meinte, denn niemand wußte bislang etwas von irgendwelchen Handlungen Gassers, alle vermuteten bloß dies und das). Frau Gasser verstand aber nicht, worauf Sonja hinauswollte, denn die Verhältnisse in der Welt waren für sie offenbar ein für allemal gesetzt, und es war für sie von völlig zwingender Logik, daß ein Josef Gasser dazu verdammt sei, ein Leben lang die eigene Nichtigkeit wie einen Rucksack überall hinzuschleppen, bis zur Verzweiflung. (Sie: Und jetzt verzweifelt er.) Manch einen im Raum machten diese psychologischen Ausführungen der Gasser sehr nachdenklich. Wie konnte diese Frau nur so verrückte Dinge von sich geben? Wo hatte sie diesen ganzen Unsinn bloß her? Eingesperrt seit Jahren in ihre Wohnung und besucht nur zwei oder drei Mal in der Woche von einer Frau Huber oder einer Frau Unterleitner, dabei ständig umgeben von ihren Magazinen und den nachmittäglichen Fernsehsendungen, hatte sich ihr offenbar ein sozusagen populärpsychologisches Bild ihrer eigenen Situation ergeben, das dazu auch noch ganz und gar diabolische Züge aufwies. Allerdings dauerte der Anfall der Gasser nur einige Minuten, anschließend schien sie plötzlich wieder ganz normal und bewirtete alle sehr freundlich mit Strudel und Kaffee. Freilich hielt sich seitdem die von Frau Gasser aufgestellteTheorie: Gasser verzweifle, offenbar bloß aus Neid, an der eigenen unscheinbaren Rolle. Daraus konnten sich alle seine (vermeintlichen) Handlungen bestens erklären lassen, weil solche psychologischen Muster es an sich haben, daß man mit ihnen alles erklären kann. Die Erklärung des Menschen wird dadurch, nämlich durch die Psychologie, jederzeit verfügbar (und verblüffend einfach, daher auch so verlockend), und der Sprecher merkt nicht, daß er ausschließlich immer nur von sich und seinen eigenen Theorien spricht, die er in die Welt und den Menschen hineinkonstruiert, nicht aber vom Objekt, das er anschaut (den Menschen, etwa Gasser). Auf den Gassen kannten sie anschließend nur noch ein Thema: genau dieses psychologische Erklärungsmuster. Erst dieses verkleinerte Gasser zu einem so handlichen Brocken, daß er bequem in der Arena zerfleischt werden konnte. Er wurde auf diese Weise sozusagen endlich mundgerecht gemacht. Jeder hatte Gasser nun in der Hand, weil jeder plötzlich etwas über ihn wußte . Die Details des Geschehens, die Spuren, all das war strittig und zunächst eine Sache der Polizei und der Spurensicherung, also für den Volksmund unverfügbar (es sei denn in Form des Gerüchts), ein handfestes Wissen aber war das gefundene psychologische Muster beziehungsweise dessen Anwendung auf Gasser, jedem zugänglich und für alle frei verfügbar. Übrigens verließen einige Leute bald die Wohnung der Gassers, nur Gruber, Sonja, Paolucci und Stadtrat Valli blieben zurück. Es lag eine eigenartige Stimmung im Raum.Alles war gedrückt, dumpf, die scheußliche
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