Klausen
(dies ist eine bemerkenswerte Eigenart der Menschen, nämlich daß sie im nachhinein meinen, schon vorher genau das geahnt zu haben, was anschließend erst eintritt). Allerdings waren natürlich einige derer, die besonders nachdrücklich über das Geschehen sprachen, wie immer zu dieser Tageszeit schon angetrunken. Das Eigentümliche an diesenNachrichten, die sich stets wie ein Lauffeuer verbreiten, ist natürlich auch, daß man nie ihren Wortlaut überprüfen kann. Deshalb nehmen sich diese Nachrichten von Mund zu Mund immer großartiger aus, am Ende ähneln sie einem spektakulären Feuerwerk. Es wurde von Polizeibussen erzählt, von ganzen Hundehorden, es seien viele Verhaftungen vorgenommen worden, alles das habe im Schein unzähliger Strahler stattgefunden (allerdings fand die sogenannte Erstürmung schon am Vormittag statt, sie war um halb zwölf, als man in der Stube der Gassers auf die Uhr geblickt hatte, schon beendet, Scheinwerfer waren natürlich nicht benutzt worden). Dutzende Polizisten seien beteiligt gewesen, sagte man, alle schwerbewaffnet und mit kugelsicheren Westen versehen … Allerdings wurde nicht deutlich, warum diese Erstürmung denn eigentlich stattgefunden hatte. Wenn man nämlich die Burg tatsächlich gestürmt hatte, mußte sich dort jemand verschanzt haben. Hatten sich die marokkanischen und albanischen Familien dort verschanzt? (Aber warum?) Hatte sich jemand anderes dort verschanzt? Keiner wußte das. Einige meinten, die Erstürmung der Burg sei ein Skandal. Das schien ihnen sogar ganz und gar gewiß, sie waren moralisch völlig entrüstet. Sie konnten aber bei genauerer Nachfrage nicht angeben, worin der Skandal bestand. Sie sprachen davon, daß die armen marokkanischen und albanischen Familien nun auf der Straße stünden, viele seien sicherlich verhaftet worden. Später schien sich dieses Bild zu verfestigen. Die Erstürmung derBurg schien mit genauer Logik geschehen zu sein, aber wer nachgefragt hätte, worin diese Logik bestehe, hätte wohl nur sehr undeutliche Antworten bekommen. So konnte es ja nicht weitergehen, sagten die einen, dort mußte aufgeräumt werden. Andere (etwa Perluttner) sagten, der ganze Polizeiapparat in Südtirol sei Staatsterrorismus von italienischer Seite. (Perluttner, das sieht man an diesem Satz, haßte die italienischen Behörden noch mehr als die Migranten.) Wieder andere behaupteten, nur Gasser und seine Genossen wüßten die Antwort auf alle Fragen und seien dementsprechend letztendlich für alles, was nun geschehe, zur Rechenschaft zu ziehen. Letzteres sagte eine Fraktion, die sich unterdessen um Giuseppe Neri herum gebildet hatte. Und wie nach dem Sturm die Wolken sich langsam zu teilen beginnen und der Himmel wieder aufklart, so beruhigte sich auch die Aufregung um die Erstürmung der Ploderburg, und die Dinge wurden zunehmend in ein weniger spektakuläres Licht gerückt. Nun aber zu dem Ereignis selbst. Paolucci und die anderen fuhren von Frau Gasser aus direkt nach Brixen, um die Dinge vor Ort zu betrachten. Sie fanden eine Demonstration vor. Vor der Burg hatte sich zunächst ein kleines Häuflein Menschen zusammengefunden, mit der Zeit kamen immer mehr Leute der unterschiedlichsten Art dazu, sie hatten eilig verfertigte Transparente und Pappschilder dabei und machten mit verschiedenen, teilweise improvisierten Schlaginstrumenten einen großen Lärm. Sie forderten die Insassen der Burg auf, herauszukommenund mitzudemonstrieren. Niemand kam dieser Aufforderung nach, die Burgbewohner schauten vielmehr verschüchtert aus ihren Fenstern auf die Menschenansammlung und hatten vor ihr mindestens genausoviel Angst wie vor der Polizei und allen anderen. Es wurde diskutiert, auch mit den Carabinieri, die sich dort infolge der Versammlung einfanden. Noch immer mehr Menschen kamen dazu. Jemand hielt eine hinreißende Rede auf die soziale Verelendung der Asylanten in Europa und auf die geschichtliche Verpflichtung Italiens, die Verpflichtung Italiens seiner eigenen Geschichte gegenüber, denn nicht nur Deutschland habe seinen Hitler gehabt, sondern Italien habe seinen Mussolini gehabt, also sei man auch verpflichtet. Wir wollen euch helfen, wir sind mit euch, riefen die Demonstranten zu den Fenstern hinauf. Diese wurden alsbald geschlossen. Mit der Zeit fand sich sogar eine gewisse Prominenz vor der Ploderburg ein, auch der stellvertretende Brixner Bürgermeister erschien und versuchte zu beschwichtigen, denn die Stimmung gegen die Polizei und überhaupt die
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