Klausen
wie diesen Massenauflauf erlebt, und vor allen Dingen begeisterte ihn die völlige Grundlosigkeit, mit der alles geschah. Die Demonstration ging über mehrere Stunden, sie hatte fast etwas von einer Belagerung der Burg. Paolucci unterhielt sich eine Weile mit Auer und erfuhr nun, weil er es unbedingt wissen wollte, endlich den Inhalt des rätselhaften Briefs, den Gasser im Keller an Auer übergeben hatte, kurz bevor er verschwunden war. Das war jener Brief, über den Auer damals nichts gesagt hatte, er hatte ihn nur angewidert beiseite gelegt, und Badowsky hatteihn an jenem Abend zwar gelesen, aber offenbar nicht verstanden, weil er nämlich schon viel zu betrunken gewesen war. Alle hatten sich damals gefragt, was dieser Brief zum Inhalt habe; und seitdem Gasser so sehr in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt war, hatte sich Paolucci das noch um so mehr gefragt. Er hatte sich nämlich schon Gott weiß was Wichtiges als Gegenstand dieses Briefs ausgemalt und durchaus etwas Politisches erwartet. Allerdings war der Brief bloß folgenden Inhalts: Ein Deutsches Ministerium (Land Brandenburg, Sitz Potsdam) teilte Auer mit, daß er aus irgendwelchen Gründen ein Stipendium bekommen solle. Auer hatte den Brief immer noch in seiner Hosentasche (er hatte ihn dort vergessen) und zeigte ihn Paolucci. Der Brief war völlig zerknüllt. Er landete im Verlauf der Demonstration sogar im Dreck und blieb dort liegen, denn Auer wollte mit diesem Stipendium und überhaupt einem Ministerium nichts zu tun haben, das schien ihm alles abgeschmackt und suspekt. Paolucci war allerdings vollkommen unverständlich, wieso jemand Geld ausschlug, das er offensichtlich für nichts anderes bekommen sollte als für das, was er ohnehin die ganze Zeit tat, nämlich schreiben und zeichnen. Er fragte ihn, was das alles denn bedeuten soll. Wenn er, Auer, eine Existenz als Künstler führen wolle, dann wäre doch, sagte er, dieses Stipendium für ihn überaus wichtig. Auer ließ sich allerdings auf kein Gespräch darüber ein und schaute bei den Worten Existenz als Künstler völlig angewidert. (Zum einen verabscheute er das Wort Existenz,er wußte überhaupt nicht, was das bedeuten sollte, und zum anderen hätte er, im Gegensatz zu Pareith, das Wort Künstler für sich nie gelten lassen, eher hätte er Worte wie Depp oder Idiot oder Betrüger für sich gelten lassen, aber nicht das Wort Künstler, das war ihm viel zu heilig. Er war auch nicht in der Lage dazu, einen Kult um sich zu betreiben, er war tatsächlich außerhalb seiner Produktion nur zum unausgesetzten Saufen in der Lage, das war sein einziges Interesse. Heute freilich, nach seinem Tod, wird der Kult betrieben, im Keller sitzen die literarischen Touristen herum und tauschen dort ihre Details etcetera über Auer aus.) Auer: Er habe sich nicht beworben um dieses Geld aus Potsdam, und er nehme es nicht an, er habe das Geld bislang nicht gebraucht, und er brauche es auch jetzt nicht. Aber natürlich brauchst du Geld, sagte Paolucci, du hast doch überhaupt kein Geld, du kannst nicht immer so weiterleben, wie du jetzt lebst. Auer sagte, er brauche kein Geld. Er wolle kein Geld. Er wolle mit solchen Dingen nichts zu tun haben. Er gebe ihm auch keine weiterreichende Erklärung. Dann sagte er noch auf eine etwas rätselhafte Weise: Gasser würde das verstehen, dieser könnte es ihm erklären, er, Auer, könne es nicht erklären, allerdings würde Gasser natürlich auch nichts erklären, ab einem gewissen Stadium redet man nicht mehr, man ist vielmehr darüber hinaus, und ab diesem gewissen Stadium beginnen sich auch plötzlich solche Menschen wie Badowsky an einen zu hängen und selbst das Wort zu führen, das verselbständigt sich immermehr, und am Ende geschehen irgendwelche Dinge nur aufgrund dieser Verselbständigung, aber man selbst habe dann schon lange nichts mehr damit zu tun. Paolucci schaute ihn sehr erstaunt an. Was meine er denn damit, fragte er, während wieder ein Sprechchor entstand, der Freiheit und unbedingte Rechte auf Gleichheit für die Asylanten und Auswanderer forderte. Auer gab keine Antwort, sondern trat kräftig auf den Brief des deutschen Ministeriums, der auf dem Boden in einer Matschpfütze lag. Auer schaute ihn sogar wütend an, was Paolucci sehr verwunderte, denn er hatte Auer noch nie wütend erlebt. Allerdings dauerte das nur einen Augenblick, dann nämlich beachtete Auer Paolucci überhaupt nicht mehr, er hatte ihn von einem auf den anderen Augenblick, ebenso wie den
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