Kleine Abschiede
fast.
Als sie wieder nach Bay Borough
kamen, war Joel schon zu Hause und wollte wissen, was es Neues gab. Er nahm
Nats Heiratspläne von der heiteren Seite. »Noah wird Trauzeuge«, erzählte
Delia, als sie ihren Mantel aufhing.
»Mach keine Witze!« Er drehte
sich nach Noah um. »Wo feierst du denn den Herrenabend?«
»Herrenabend?«
»Hast du dir schon Trinksprüche
ausgedacht?«
»Trinksprüche!«
»Hör nicht auf ihn«, sagte
Delia zu Noah, der besorgt dreinsah.
Ihr wurde bewußt, daß sie bei
der Hochzeit zwangsläufig Ellie sehen würde. Eigentlich ein Skandal, daß sie
sich noch nicht kennengelernt hatten; Delia versorgte Ellies Sohn. Welche
Mutter vertraute ihren Sohn einer Fremden an?
Vor einigen Wochen, als Delia
durch Nats Schlafzimmer zur Toilette gegangen war, hatte sie auf seiner
Herrenkommode das Farbfoto von seinen Töchtern gesehen. Wenigstens nahm sie an,
daß es die Töchter waren — Ellie und drei andere Blondinen, lachend, Arm in
Arm. Ellie war die lebhafteste, die gleich auffiel. Sie trug ein Kleid aus cremefarbenem
Stoff, übersät mit Erdbeeren, die zu ihrem Erdbeermund paßten. Nur die Schuhe
waren unvorteilhaft. Ballerinaschuhe, schwarz und flach, steif und klobig. Ihre
Zehen wirkten gequetscht und die Knöchel ganz dick.
Warum fand Delia das insgeheim
beruhigend? Sie hatte nichts gegen Ellie; sie kannte sie nicht einmal. Aber sie
beugte sich einen Augenblick über das Foto und fahndete nach weiteren
Unvollkommenheiten. Die sie nicht fand. Und Joel konnte sie sowieso davon
nichts erzählen.
14 An einem Freitagmorgen Ende
Februar — so mild und sonnig, als sei der Frühling da, hätte sie nicht gewußt,
wie launisch der Winter war — betrat Delia die ›Junge Männermode‹-Boutique, um
einen Schlafanzug für Noah umzutauschen. (Sie hatte ihm einen Anzug mit Baltimore-Orioles-Baseball-Emblem
gekauft, ahnungslos, daß er aus unerfindlichen Gründen für das Team aus
Philadelphia war.) Und dann, weil es so angenehm war, draußen ohne Mantel, nur
im Pullover zu gehen, wollte sie Mrs. Lincoln in der Bücherei besuchen. Also
überquerte sie den Platz und ging die West Street entlang. Am Blumengeschäft
ging sie langsamer, bewunderte einen Topf Narzissen, und als sie an Mr.
Pomfrets Kanzlei vorbeikam, warf sie neugierig einen Blick durchs Fenster, ob
dort eine neue Sekretärin saß. Es hieß, er quäle sich mit einer Nichte seiner
Frau herum, die nicht einmal mit der Schreibmaschine fertig wurde, vom Computer
ganz zu schweigen. Doch die Fensterscheibe spiegelte, um hindurchzusehen hätte
sie nähertreten müssen. So sah sie nur ihren eigenen Umriß und gleich dahinter
einen zweiten, beide efeugemustert von der neuen Kletterpflanze, die
wahrscheinlich die Nichte aufs Fensterbrett gestellt hatte. Delia beeilte sich
und überquerte die George Street.
Im Schaufenster des ›Billigen
Bügel‹ waren Kleider für kleine Mädchen ausgestellt; jetzt spiegelten sich die
beiden Umrisse in Rosenmuster und Schottenkaro. Der zweite Umriß schien ihr
lang und gelenkig, schlaksig wie ein Jugendlicher. Wie Carroll.
Sie drehte sich um, und da
stand er. Er war, wenn das möglich war, noch erschrockener als sie. Er
erstarrte und schnellte zurück, die Hände tief in den Windjackentaschen, die
Ellenbogen abstehend.
Sie sagte: »Carroll?«
»Was?«
»Oh, Carroll!« rief sie,
und das Gefühl, das sie mit einem Ruck ergriff, zerrte an ihr wie eine Faust
tief innen; zum ersten Mal begriff sie, wie sehr sie ihn vermißt hatte. Sein
Gesicht hätte ihr eigenes sein können, nicht weil er ihr glich (was er zwar
tat), sondern weil ihr jede kleinste Einzelheit in den vergangenen fünfzehn
Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war — die Sternchensommersprossen auf
seiner feingeschwungenen Nase, die Schatten unter seinen Augen, die in
belastenden Situationen noch dunkler wurden. (Jetzt waren sie fast lila.) Er
reckte trotzig sein Kinn, und deshalb legte sie im allerletzten Augenblick doch
nur eine Hand auf seinen Arm, statt ihn zu küssen. Sie sagte: »Ach, wie gut,
dich zu sehen! Wie bist du hierher gekommen?«
»Bin mitgefahren.«
Sie hatte vergessen, daß er im
Stimmbruch war. Daran mußte sie sich erst gewöhnen. »Und was machst du hier auf
der West Street?« fragte sie.
»Ich war erst in deiner
Pension, aber da hat niemand aufgemacht, und dann gingst du auf einmal über den
Platz.«
Offenbar hatte er keinem aus
der Familie erzählt, daß er zu ihr fuhr. (Sie hatte Eliza schon vor
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