Kleine Abschiede
erst
so groß«, und deutete mit der Hand in Schienbeinhöhe.
»Oh«, sagte Delia, »Nein, Sie
meinen Noah.« Mittlerweile wußte die ganze Stadt, daß Mr. Bragg abgebaut hatte,
Rick und Teensy ihn deshalb leider nicht mehr loswurden.
»Wer ist Noah?« fragte er als
nächstes.
»Wer ist Noah?« fragte auch
Carroll.
»Bloß der Junge...« Sie war
verwirrt, kam sich ertappt vor. »Bloß der Sohn meines Arbeitgebers«, sagte sie.
»So! Carroll, erzähl, was gibt’s zu Hause Neues? Beglücken euch die guten Feen
aus der Nachbarschaft? Apfelkuchen, satt?«
»Frag mich lieber nach Tante
Liza«, sagte Carroll.
»Eliza? Geht es ihr gut?«
»Na ja. Gut schon,
wahrscheinlich«, sagte er.
»Was meinst du damit? Ist sie
krank?«
»Nein, krank ist sie nicht.«
»Vergangene Weihnachten warst
du noch ein Stöpsel«, rief Mr. Bragg. »Du und sie, ihr habt zusammen Kaffee
getrunken, herumgeheimnist mit euren Geschenken.«
»Eliza führt noch den Haushalt,
oder?« beharrte Delia.
Aber Mr. Bragg hatte Carroll
abgelenkt. Er sagte: »Wen meint er?«
»Habe ich doch gesagt: den Sohn
meines Arbeitgebers.«
»Trägst du deshalb diese Tüte
mit dir rum? ›Garderobe mit Geschmack für junge Männer mit Köpfchen‹? Kaufst du
für den Klamotten ein? Und was hast du bloß an, um Himmels willen?«
Delia sah an sich herunter. Sie
trug nichts Außergewöhnliches — nur ihre Miss-Grinstead-Strickjacke und das
einfache dunkelblaugemusterte Kleid.
»Du siehst so, na, vermummt aus.«
Zwei Teller tauchten vor ihnen
auf, klappernd auf dem Resopal. »Jemand Ketchup?« fragte Rick.
»Nein, danke.« Zu Carroll
gewandt, sagte sie: »Junge, ich — «
»Ich möchte Ketchup«, erklärte
Carroll angriffslustig.
»Oh, entschuldige. Ja, bitte,
Rick.«
Carroll sagte: »Hast du
vergessen, daß du einen Sohn hast, der seine Pommes mit Ketchup ißt.«
»Ach, du, glaube mir doch«,
sagte sie, »das vergesse ich nie. Also, vielleicht daß du Ketchup magst, aber
nie, daß...«
Rick brachte Ketchup in einer
Plastikflasche, dazu hohe Pappbecher mit Cola. »Danke, Rick«, sagte sie.
Sie wartete, bis er wieder fort
war, und dann langte sie über den Tisch und berührte Carrolls Hand. Seine
Knöchel waren schwielig. Seine Lippen waren aufgesprungen. Alles an ihm war
viel zu faßbar; sie war an den verschwommenen, weich umrissenen Carroll ihrer
Tagträume gewöhnt.
»Ich vergesse nie, daß ich
Kinder habe«, sagte sie zu ihm.
»Genau. Deshalb hast du am
Strand die Kurve gekratzt, ohne ihnen auch nur einen Blick zu gönnen.«
Jemand sagte: »Delia?«
Sie schrak auf. Zwei junge
Mädchen standen an ihrem Tisch — Kim Brewster und Marietta Sowieso. Schwartz?
Schmidt? (Sie machte Karamellen, so süß: es zog einem das Hirn zusammen.)
»Nanu! Hallo!« sagte Delia.
»Sie erzählen nicht Mr. Miller,
daß Sie uns getroffen haben?« bat Kim. Kim war eine von Delias Nachhilfeschülerinnen;
seit einiger Zeit gab sie an der Schule freiwilligen Nachhilfeunterricht in
Mathematik. »Er bringt uns um, wenn er es erfährt!«
»Wir schwänzen nämlich«, fügte
Marietta hinzu. »Wir haben Sie hier drinnen gesehen und wollten Sie was fragen:
Sie wissen doch, daß Mr. Miller bald Geburtstag hat?«
Delia wußte es nicht, aber sie
nickte. Hauptsache, die Mädchen verschwanden.
»Wir denken uns gerade ein
Geschenk aus, und wir dachten, Sie wüßten vielleicht, was wir kaufen können.«
»Oh, also...«
»Ich meine, Sie kennen ihn am
allerbesten. Er raucht nicht, oder? Die meisten Männergeschenke sind immer für
Raucher.«
»Er raucht nicht, nein«, sagte
Delia.
»Nicht mal Pfeife?«
»Nicht mal Pfeife.«
»Er ist immer so, wissen Sie,
so vornehm und so, wir meinen, er sieht mit Pfeife bestimmt toll aus.
Vielleicht kaufen wir ihm einfach eine.«
»Nein, ich glaube, das wäre
überhaupt nicht sein Fall«, sagte Delia energisch. »Also! Schön euch zu sehen,
ihr zwei.«
Doch Kim mit den langen
seidigen Wimpern betrachtete sinnend Carroll. »Du gehst nicht in den
Unterrock?« stellte sie fest.
Carroll wurde rot und sagte:
»Unterrock?«
»Unsere High-School: Dorothy
Underwood«, sagte sie und ließ ihr Kaugummi platzen. »Du bist woandersher.«
»Yeah.«
»Ich wußte doch, daß wir dich
nicht kennen.«
Delia begann mit dem
Krautsalat. Sie wußte, jetzt sah sie ihn lieber nicht an. Carroll aber griff
nach der Ketchupflasche und dekorierte eingehend, einzeln und der Reihe nach,
jede Pommes frites auf seinem Teller. »Also«, sagte Kim schließlich, und
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