Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
aussieht?«
    Delia bog um die Ecke. Die Uhr
im Schaufenster des Optikers zeigte Viertel nach elf — noch längst keine
Mittagszeit, und dennoch bedauerte sie, daß sie das Barbecue-Sandwich nicht
gegessen hatte. Und der Krautsalat hatte köstlich geschmeckt. Ganz cremig, mit
viel Selleriesamen. Ein paar steckten ihr noch im Mund, sie zerbiß sie und
schmeckte das Nußaroma. Sie ließ den Geschmack auf ihrer Zunge zergehen.
Plötzlich hatte sie unglaublichen Hunger. Sie fühlte sich vollkommen hohl. Als
hätte sie seit Monaten nichts gegessen.
     
     
     
    15 Eine Zeitlang schien Carroll
nach seinem Besuch an einem halben Dutzend Orte in der Stadt gegenwärtig. Das
efeuberankte Fenster, wo er zuerst aufgetaucht war, der Tisch bei Rick-Rack’s,
wo er gesessen hatte, Belles Veranda, wo er ein paar Minuten gewartet hatte, ob
jemand ihm öffnete. (War ihm aufgefallen, wie die Farbe abblätterte? Wie die
Dielen unter seinen Füßen wippten?) In Delias Erinnerung schien er jetzt nicht
mehr ruppig, sondern traurig, sein widerborstiges Benehmen nur ein Zeichen, wie
verletzt er war. Sie hätte ihn mitnehmen sollen, damals, als sie wegging,
dachte sie. Aber dann hätte sie Susie und Ramsay auch mitnehmen müssen. Sonst
hätte es ausgesehen, als zöge sie eins ihrer Kinder vor. Sie sah sich wieder
den Strand entlangmarschieren, die verschwitzten Hände der Jungen in ihren
Händen, Susie, die Mühe hatte, mit ihnen Schritt zu halten. Wohin gehen wir,
Mama. Seid still, keine Fragen, wir laufen von zu Hause weg.
    Obwohl sie, wenigstens zum
Teil, ihrer Kinder wegen weggegangen war.
    Bei genauerer Überlegung schien
Carroll nicht am Boden zerstört, daß sie gegangen war. Er hatte prima überlebt,
und sein Bruder und seine Schwester ebenso. Und Nats Theorie ging ihr durch den
Kopf: Wir sollen uns an den Katzen ein Beispiel nehmen und unsere erwachsenen
Kinder so leicht vergessen wie sie. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Vielleicht
nicht ganz so leicht.
    Aber war es nicht so, die
Kinder waren ihr in den vergangenen Jahren ein wenig fremd geworden — zu guter
Letzt sogar ihr Jüngster? Nicht nur, daß sie als Mutter nicht mehr die zentrale
Rolle im Leben ihrer Kinder spielte, auch die Kinder spielten keine so
überwältigende Rolle mehr für sie.
    Sie saß mucksmäuschenstill,
starrte in den Raum, überlegte, seit wann sie das wußte.
    Nachdem sie zugesehen hatte,
wie ihre Kinder sich freigeschwommen hatten, wandte sie sich dem zu, der ihr
noch blieb: ihr Mann.
    Falls er ihr blieb.
    In Gedanken sah sie ihn am
Frühstückstisch mit Eliza, die ihm Kaffee nachschenkte. Eliza trug ihr beiges
Safarikleid und sogar ein bißchen Rouge. Sie war gar nicht so unansehnlich.
Ihre Haut war glatt und leicht gebräunt, eigentlich ohne Altersspuren, und die
dunklen Augen leuchteten durch das Rouge lebhaft. Bevor Sam sich versah, hatte
sie sich bei ihm unentbehrlich gemacht, führte die Karteien, schrieb die
Rechnungen, kochte ihm etwas Warmes und organisierte nahtlos den Haushalt.
»Ach, danke, Eliza«, hörte sie Sam aus tiefster Seele sagen. Männer waren
manchmal so leichtgläubig! Und eigentlich hatte er mit Eliza mehr gemeinsam,
als auf den ersten Blick zu vermuten war. Eliza behauptete zum Beispiel, sie
lebe ihr Leben so oft, bis sie es endlich richtig hinkriegte, Sam dagegen
wollte auf Anhieb sein Leben richtig hinkriegen. Beide gingen fest davon aus,
daß es im Leben ein »richtig« gab. Wohingegen Delia mittlerweile sich diese
Mühe mehr oder weniger sparte.
    Außerdem war Eliza schließlich
Delias Schwester. Sie hatte Delias Statur, klein und zierlich, besaß die
gleichen erstaunlich guten Zähne, fand, wie sie, Gerüche enorm wichtig, sie
vertrug keinen Zucker und hatte wie Delia die Angewohnheit, ihre Sätze nicht
ordentlich zu beenden. Eliza zu lieben wäre für Sam ein altvertrautes,
wohlbekanntes Lied.
    Fast hätte Delia sich auf der
Stelle ins Auto gesetzt, wäre nach Baltimore gefahren, aber es wäre zu banal
gewesen — den Mann wiederhaben zu wollen, nur weil jemand anders ihn wollte.
Sie zwang sich, sitzen zu bleiben. Du hast es nicht anders gewollt, sagte sie
sich.
    Der angeschlagene Mann und das
Kind dieser anderen Frau, das viel zu neue Haus mit den viel zu dünnen Wänden,
die bei jedem Schlag wie Pappe klangen, die spärliche Stadt, wie eine Kulisse
mitten in einer Landschaft, flach und blaß wie aus Papier.
     
    * * *
     
    Eines Morgens, bevor es hell
wurde, erwachte sie mit einem Ruck, vielleicht gestört durch einen

Weitere Kostenlose Bücher