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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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froh, daß wir dir für Nat
nicht extra einen Anzug kaufen mußten«, meinte sie.
    »Und was, wenn mir der Ring
hinfällt? Du weißt, mir zittert garantiert die Hand. Ich lass’ den Ring fallen,
und er klingelt laut über den Boden und plumpst in eins dieser Gitter, kling-klang-klung, auf Nimmerwiedersehen.«
    »Ich finde, mein Kleid könnte
schicker sein«, seufzte Delia. »Ich sehe aus wie die unverheiratete Tante.«
Unter ihrem Mantel trug sie das Graue mit den Nadelstreifen. »Oder wenigstens
eine Kette, ein Anhänger vielleicht, oder Perlen.«
    »Du siehst okay aus.«
    In ihrem Schmuckkasten zu Hause
in Baltimore lag eine vierreihige Perlenkette. Nicht echt, natürlich, aber zum
Nadelstreifen perfekt.
    Wie lange noch, bis sie ihren
Sachen in Baltimore nicht mehr nachtrauerte, weil die dann sowieso aus der Mode
oder unansehnlich und abgetragen waren — selbst wenn sie zu Hause geblieben
wäre? Wann hielt sie ihre Sachen hier für ihre eigentlichen Sachen?
    Sie betätigte den Blinker und
rauschte auf den Highway 50. »Hu-u-u-i-i!« quietschte Noah, hielt sich an der
Türklinke fest.
    »Tut mir leid.« Sie trat auf die
Bremse. »So«, sagte sie. »Ich glaube, diesmal lerne ich endlich deine Mutter
kennen.«
    »Ja!«
    »Sie hat doch zugesagt, oder?«
    »Kann sein.«
    Kürzlich hatte Delia das
Porträt in Neues aus der Nachbarschaft hinten in Noahs Schrank gefunden.
(Wer ist die tolle neue Wetterfrau auf WKMD?, begann der Artikel.) Aber jetzt
schien kaum vorstellbar, daß Noah überhaupt einen Gedanken an seine Mutter
verschwendete. Er gähnte und sah aus seinem Fenster die Reste des verrückten
Schneesturms vergangene Woche. Der Wald zeichnete sich schwarz gegen weiß ab,
wie eine kunstvolle Fotografie.
    Schneewarnungen oder
Orkanvorhersagen entscheiden manchmal über Leben und Tod, hatte Ellie im Interview
gesagt. Bei dem Gedanken, daß ich etwas für meine Gemeinde tun kann, fühle
ich mich total gebauchpinselt...
    Delia überlegte, wie Joel wohl
›gebauchpinselt‹ fände.
    Vor ihnen wuchs der rote
Backsteinklotz, Senior City. Delia blinkte und fuhr auf den Parkplatz. »Und
wenn ich eine Rede halten soll?« fragte Noah.
    »Trauzeugen halten keine
Reden.«
    »Oder wenn einer in Ohnmacht
fällt oder so? Ich muß dann die Stütze sein.«
    »Glaub mir«, sagte Delia, »es
ist babyleicht.«
    Sie stiegen aus und überquerten
den Parkplatz, der nur oberflächlich freigeschaufelt war. Delia, ohne Stiefel,
hing sich bei Noah ein, und sie balancierten um die vereisten Stellen. »Siehst
du?« sagte sie, »du bist ja schon die Stütze!«
    Sein Arm war dünn, aber mächtig
stark, wie ein kleiner stählerner Bogen.
    In der Eingangshalle fragten
sie einen alten Mann nach dem Weg zur Kapelle. »Den Flur immer geradeaus, dann
hinten am Ende links«, erklärte er. »Sie gehen sicher zur Hochzeit.«
    Sie nickten.
    »Ich komme auch gleich, das
will ich nicht verpassen. Das ganze Haus ist eingeladen, wissen Sie.«
    Delia bedankte sich, und sie
gingen weiter durch den Flur. Bei den Aufzügen mit den glänzenden Metalltüren
warf sie einen prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild. Sie fand sich blaß und
ungepflegt, ihr Mantel hing schlaff und reizlos an ihr, viel zu lang.
    Kleider sind meine größte
Schwäche, hatte Ellie Neues aus der Nachbarschaft anvertraut. Aber
glücklicherweise kommt bei meiner Figur alles gut zur Geltung: Mein gutes
Aussehen kostet kein Vermögen.
    Am Ende des Flurs bogen sie
nach links und traten durch eine Seitentür in eine kleine Kapelle mit beigem Teppichboden
und eleganten beigen Kirchenbänken. Die meisten Bänke waren bereits von älteren
Frauen besetzt, und dazwischen, in großen Abständen, drei oder vier Männer. Die
Frauen waren alle modisch gekleidet; einige waren im Bademantel. Die
Rollstuhlfahrerinnen bildeten eine extra Reihe hinten. Delia und Noah sahen
sich um, bis ein dunkelhaariger Junge im Anzug kam und Delia seinen Arm bot.
»Wir setzen die Gäste, wie’s kommt«, meinte er. »Wo Platz ist.«
    »Also, Noah hier braucht keinen
Platz. Er ist Trauzeuge.«
    »Tag, Noah. Ich bin Peter, ein
Sohn der Braut«, sagte der Junge. Er hatte weder Binkys zierliches Gesicht noch
ihre rosige Haut: nur ihr Geschick, mit Leuten umzugehen. Zu Noah meinte er:
»Du gehst durch die Tür da vorn. Dein Großvater wartet schon.«
    Noah warf Delia einen letzten
flehentlichen Blick zu, sie lachte ihm zu und strich ihm das Haar aus der
Stirn. »Hals- und Beinbruch«, sagte sie.
    Dann suchte sie sich, von

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