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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Traum,
obwohl nicht einmal Bruchstücke davon übrig waren. Sie lag im Bett, und aus
irgendeinem Grund erinnerte sie sich an das erste Abendessen, zu dem sie und
Sam eingeladen hatten, nachdem sie verheiratet waren. Er hatte zwei alte
Freunde und deren Frauen einladen wollen. Tagelang hatte sie Kochbücher
gewälzt. Jede schwesterliche Hilfe hatte sie abgelehnt; sie hatte ihrer Familie
das Versprechen abgerungen, sich während des Abends nicht zu zeigen. Sie wollte
beweisen, daß sie erwachsen war. Und doch, gleich als das erste Paar eintraf,
war es, als sänke sie in ihre Kindheit zurück. »Hallo, Grins«, hatte einer der
Männer Sam begrüßt. Grins! Würde sie Sam je auch so kumpelhaft anreden? hatte
sie überlegt und ihr Rockbündchen zurechtgerückt. »Na, Joe«, hatte Sam gesagt.
»Delia, ich möchte dir Joe und Amy Kugels vorstellen.« Delia hatte die Freunde
nicht beim Nachnamen gekannt; den Namen Kugels hatte sie im Leben noch nicht
gehört. Sie fand ihn so komisch, sie mußte lachen. Sie kicherte hilflos, bis
ihr die Luft wegblieb und sie nur noch quietschte; Tränen liefen ihr über die
Wangen, bis ihr alles weh tat. Wie früher in der sechsten Klasse. Sie lachte,
bis sie nicht mehr konnte, während das Paar sie freundlich besorgt betrachtete
und Sam immer wieder fragte: »Delia? Kleine?«
    »Entschuldigung«, hatte sie
schließlich gesagt, als sie vor Peinlichkeit am liebsten im Erdboden versunken
wäre. »Entschuldigung, ich weiß nicht, was — «
    Worauf das zweite Paar auf der
Bildfläche erschien. »Oh, schön, daß ihr da seid!« hatte Sam erleichtert
gerufen. »Dee, dies sind meine ältesten Freunde, Frank und Mia Wauer.«
    Oh, Gott!
    Aber Sam hatte viel Verständnis
gezeigt. Nachher hatte er sie in den Arm genommen, sein Mund hatte warm ihre
Locken berührt, und er hatte gemeint, das könne jedem passieren.
    Wie jung er damals war! Delia
war das nicht klar gewesen. Ihr war er so fertig vorgekommen, über alle Zweifel
erhaben, ein unangreifbarer, selbstbeherrschter Mann, der auf seinem weißen Roß
daherkam, um sie aus ewigem Tochterdasein zu befreien. Um seine Augen zeigten
sich schon die ersten Fältchen, sie waren ihr anziehend und beängstigend
zugleich vorgekommen. Wenn er vor mir stirbt, möchte ich nicht weiterleben,
hatte sie gedacht. Dann nehme ich Gift; vielleicht hat Vater das in seinem
Arzneischrank. Damals konnte sie solche Sätze noch sagen, sie hatte die Kinder
noch nicht. Damals malte sie sich alle möglichen Katastrophen aus. Später
eigentlich auch, ehrlich gesagt. Oh, immer war sie ängstlich, voll Sorgen und
Vorahnungen, abergläubisch. Doch was war geschehen: in der Nacht vor seinen
Herzbeschwerden hatte ihr Gefühl sie kein bißchen vorgewarnt. Sie hatte zu
Hause gesessen und Lucinda’s Lover gelesen, nichts gehört und nichts
gesehen. Dann läutete das Telefon.
    Die Nachricht war zwar nicht
überraschend gekommen, ganz gewiß nicht. Als sie die diplomatischen Sätze der
Krankenschwester hörte, hatte sie nur gedacht Ach ja, natürlich, und
innerlich war sie ganz dumpf und schwer geworden. Sie hatte es schon immer
gewußt. Zuerst Vater, und jetzt Sam. Er starb und würde auf dem
Coe-Hill-Friedhof begraben, lag dann dort, bis Delia eines Tages auch kam und
neben ihm lag; wie manchmal, wenn sie abends im Fernsehen noch einen albernen
Film gesehen hatte und anschließend zu ihm ins Schlafzimmer ging, lautlos ins
Bett glitt und, wenn er schon schlief, leicht ihren Arm über seine Brust legte.
    Sie saß aufrecht im Bett, schob
die Katze beiseite und schaltete das Weckerradio ein. Um diese Zeit gab es
Jazz. Viele einsame Klarinetten und Klimper-di-klick-Klaviere, und nach jedem
Stück sagte der Sprecher, wo und wann das Stück aufgenommen worden war. In
einer Bar in New York, an einem Augustabend 1955. Einem Hotel in Chicago,
Silvester, 1949. Delia überlegte, wie Menschen es in einer Welt aushielten, in
der der Lauf der Zeit so mächtig war.
     
    * * *
     
    Nat und Binky heirateten
schließlich doch nicht im Juni. Sie verlegten die Hochzeit auf einen Samstag im
März. Nat sagte, er habe sein Alter in die Waagschale geworfen. »Ihr betrachtet
mich doch auch nach der Devise: Wieviel-länger-lebe-ich-denn-noch«, alberte er
mit Noah und Delia. »Oder: Habt-Mitleid-mit-einem-alten-Knacker.«
    Binky paßte sich gutgelaunt dem
neuen Termin an. »So«, meinte sie zu Delia, »bin ich drei Monate früher Mrs.
Nathaniel Moffat, mehr nicht. Was soll’s, wenn alles etwas

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