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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Peter
begleitet, einen freien Platz zwischen einer Frau in einem braunweißen Kleid
und einem alten Mann, der an seinem Hörgerät herumtüftelte. Der alte Mann saß
am Gang und schob seine knöchernen Knie seitwärts, um sie vorbeizulassen. Die
Frau half ihr aus dem Mantel. »Ist das nicht aufregend?« fragte sie Delia. Ihr
Gesicht war sommersprossig, von feinen Falten überzogen und immer noch anmutig;
ihr apfelsineneisfarbenes Haar war früher sicher rot gewesen. »Unsere
allererste Hochzeit in Senior City! Paul und Ginny Mellors kann man nicht
mitrechnen, die sind durchgebrannt. Sie sind verwandt?«
    »Nur befreundet.«
    »Die Leitung steht Kopf, kann
ich Ihnen sagen. Sie wollen, daß Binky mehr zahlt, weil sie das Alter nicht
hat. Sonst kämen scharenweise junge Leute, behaupten sie, weil es hier
angeblich so sicher und unsere medizinische Versorgung so gut ist. Übrigens,
ich heiße Aileen.«
    »Ich bin Delia.«
    »Schön, Sie kennenzulernen,
Delia. Ich sage nur, heiliger Bimbam, Binky ist so ein Goldstück, eigentlich
müßten wir ihr was dazuzahlen! Für unsere Sonntagstreffen eine enorme
Bereicherung.«
    Genau da erschien Ellie im
Seiteneingang.
    Delia erkannte sie sofort — das
flaumige Haar, der üppigrote Mund. Sie trug einen langen cremefarbenen Mantel,
fast passend zu ihrem Hautton; sie stand aufrecht, stiller als andere Frauen,
bis auch sie hereingeführt wurde. Diesmal nicht von Peter, sondern seinem
Bruder, offensichtlich ähnlich dunkel, aber stämmiger. Ellie nahm seinen Arm,
ging nach vorn, und ihr Mantelsaum schwang nobel hinterher. Wo fand sie jetzt
noch einen Platz? Alle Reihen waren gerappelt voll; Peters Bruder machte ihr
das wohl gerade klar; sie hörte zu, machte einen Schmollmund und runzelte die
Stirn. Jetzt gingen sie vom an der Kanzel vorüber. An der anderen Seite an der
Wand standen mehrere Leute — Küchenpersonal in Schürzen, und Ellie bekam einen
Platz in ihrer Mitte. Bedauerlich, dachte Delia, die einzige Tochter, die
gekommen war, mußte stehen!
    Doch nein, auch die andere
Tochter war da — eine gespenstisch blasse Person, die von ihrem Platz aufstand,
sich an den Sitzenden vorbei zu Ellie durchkämpfte. Das Haar der zweiten
Tochter war ebenfalls hell, aber so brutal kurzgeschoren, an manchen Stellen
schien es wie abrasiert. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie Ellie etwas
zu. Dann drehten sich beide um und sahen geradewegs zu Delia.
    Schuldbewußt sah Delia zu
Boden. Sie hätte hinüberlächeln sollen, statt dessen unterhielt sie sich
scheinbar angeregt mit Aileen. »Mary Lou Sims spielt die Orgel«, erklärte
Aileen gerade. Delia hatte nicht einmal bemerkt, daß es eine Orgel gab, doch
jetzt hörte sie die schüttere Melodie von »Blessed Assurance«. Der alte Mann zu
ihrer Rechten gab einen gellenden Pfeifton von sich, offensichtlich sein
Hörgerät. »Oh, und da kommt Pastor Merrill«, sagte Aileen. »Ist er nicht
hinreißend?«
    Delia fand Pastor Merrill gar
nicht so hinreißend, aber er trug seine schwarze Soutane mit Flair. Er schritt
zur Kanzel, in einer Hand die Bibel schwingend. Hinter ihm folgten Nat und
Noah. Nat hielt sich starr aufrecht; heute ging er ohne Stock. Noah war richtig
groß geworden, bemerkte Delia. Jetzt, neben Nat, sah sie, wie er gewachsen’
war, allein in den wenigen Monaten, seit sie ihn kannte.
    Die Orgel intonierte den
»Hochzeitsmarsch«. Alle drehten sich um und sahen nach hinten.
    Zuerst erschien eine
rundlichere, schlichtere Version von Binky - die Brautjungfer, in einem weiten
blauen Gewand mit grauem Bubikopf und breitem, freundlichem Gesicht. Dann Binky
selbst in Weiß. Wunderschön sah sie aus. Sie trug einen Strauß rosa Rosen und
strahlte glücklich, während sie den Gang entlang rauschte. Ihre beiden Nichten,
stämmig wie die Mutter, marschierten, die Schleppe fest in den Fäusten,
hinterher.
    »Oh, welch ein Anblick!« sagte
Aileen. »Sind sie nicht alle süß?« Delias Nebenmann versuchte mit den Zähnen
eine Knisterpackung Batterien aufzureißen. Drüben an der Wand leuchtete
beständig Ellies weißes Gesicht, doch nicht in Binkys Richtung.
    Der Brautzug war nun vorn, und
Nat, stolz und streng, reichte Binky seinen Arm und wendete sich dem Pastor zu.
    Die Zeremonie war kurz — nur
Ja-Wort und Ringwechsel. Noah schaffte alles bestens. Er förderte rechtzeitig
den Ring zutage und ließ ihn auch nicht fallen. Delia aber sah alles nur mit
geteilter Aufmerksamkeit, ein anderer Teil von ihr — ihr angespannter,
wachsamer,

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