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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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innerster Teil — war sich jeden Augenblick bewußt, daß Ellie Miller
unverwandt zu ihr herüberstarrte.
     
    * * *
     
    Nachher waren alle Gäste in
Nats Wohnung eingeladen — jeder, der gern wollte. Gebrechliche Gestalten
drängelten sich aus der Kapelle. Delia stützte Arme, schrumpelig und weich wie
tagealte Ballons. Sie verfrachtete wollige, nach Mottenpulver miefende Wesen in
die Fahrstühle, und dann oben plazierte sie so viele Frauen auf Nats Sofa, wie
sie nie für möglich gehalten hätte. Alle waren gespannt auf Binkys Kuchen, weil
er selbstgebacken war, und alle waren froh, daß sie die Zeit nicht mehr
gehabt hatte, jenes mehrstöckige Prachtgebilde zu bestellen, das sie sich
eigentlich erträumt hatte. »Gekauften Kuchen gibt’s andauernd in der
Cafeteria«, meinte eine Frau zu Delia. »Kommt von Bäckerei Brinhart und schmeckt
wie Heftpflaster.«
    Delia hielt nach Ellie
Ausschau. Es war schwer, in diesem Durcheinander die Übersicht zu behalten.
    Sie bahnte sich einen Weg zu
Binky, die, ihren Schleier überm Arm, einen Blechkuchen in Stückchen schnitt. »Fandest
du es gut?« fragte Binky. Ihr kleiner Kopfputz aus rosa Rosen war in Richtung
Ohr verrutscht, ein Schelmenheiligenschein.
    »Ich fand’s perfekt«,
antwortete Delia. Sie begann den Kuchen auszuteilen. Nat goß inzwischen
Champagner ein, den Binkys Söhne und Nichten herumreichten. Bald gab es keine
Gläser mehr, und sie behalfen sich mit Wegwerfbechern.
    Als alle versorgt waren, sprach
Nat einen Trinkspruch. »Meiner schönen, schönen Braut«, sagte er und hielt eine
kleine Rede, daß sein Leben nicht geradlinig verlaufen war — weder abwärts noch
aufwärts — , sondern unregelmäßig, Zickzack, eine Spirale und manchmal auch
unleserliches Gekritzel. »Und manchmal«, sagte er, »wenn du meinst, das ist das
Ende, stellst du fest, es ist ein ganz neuer Anfang.« Er hob sein Glas und
stieß mit Binky an; und seine Augen schimmerten verdächtig.
    Eine Frau auf dem Sofa meinte,
Binkys Kuchen sei mit selbstgeriebener Zitronenschale. »Selbstgeriebene
Zitronenschale schmecke ich immer raus«, sagte sie. »Kein Vergleich mit dem
abgepackten braunen Zeug.« Sie leckte in aller Seelenruhe die Krümel von ihrer
Gabel. Ihr Gesicht war älter als alt, es schien fast auseinanderzufallen,
nirgends mehr klare Konturen. Wenn jemand alle seine Freunde überlebt hatte,
überlegte Delia, ob er dann im Leben vielleicht an einen Punkt kam, wo er
anfing, sich für den allerersten unsterblichen Menschen zu halten?
    Sie nahm Binky das Messer aus
der Hand und schnitt weiter Kuchen, reichte denen, die ein zweites Stück
wollten, die Kuchenplatte. Im Schlafzimmer ließ sich eine junge Frau in einem
weißen Schwesternanzug über verschiedene Krankenhäuser aus, redete von
»Johannes« und »Dreifaltigkeit«, wie von alten Bekannten, während eine Schar
von Zuhörern gebannt dasaß. Zwei Männer spielten in einer Ecke Schach; einer
von ihnen fragte, ob er seiner Frau im dritten Stock ein Stück Kuchen mitnehmen
dürfe. Aileen, Delias Banknachbarin, nickte lächelnd, als eine Frau mit
Pelzstola die Hochzeiten beschrieb, die sie schon gefeiert hatte. »Und dann
Lois: die Glückliche! Kriegt einen Mann inklusive Haushaltsgeräte,
komplett mit Heizofen.«
    Noah kam mit einem Glas
Champagner, versuchte es zu verstecken, als er Delia sah. »Her damit«,
kommandierte Delia.
    »Mensch, Delia.«
    Sie nahm es ihm aus der Hand
und stellte es aufs Tablett. »Übrigens«, fragte sie, »wo ist deine Mutter?«
    »Keine Ahnung.«
    »Ist sie nicht mit nach oben
gekommen?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich
glaube, sie hatte noch was vor«, sagte er. Dann machte er auf dem Absatz kehrt,
bevor sie etwas dazu sagen konnte — was sie sowieso nicht getan hätte.
    Binkys Schwester, mit dem
Tablett in beiden Händen, räusperte sich. »Ich habe gesehen, wie sie gleich
nach dem Ja-Wort gegangen ist«, meinte sie. »Sie und ihre Schwester. Dudu, oder
wie noch?«
    »Dudi.«
    »So ein Affentheater wegen seiner Familie! Was ist mit uns? Wir könnten auch einiges dazu sagen, glauben Sie mir:
einen alten Mann zu heiraten, der genauso gut ihr Vater sein könnte.«
    »Also«, sagte Delia. »Ich bin
nur froh, daß sie und Nat sich gefunden haben.«
    »Ja, schon«, antwortete die
Schwester und seufzte.
    Dann tauchte Nat dicht neben
Delia auf. »Hast du meine Schwägerin schon kennengelernt?« fragte er. »Bernice,
meine neue Schwägerin?« Er strahlte vor Begeisterung, seine Stimme schwankte,
sein

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