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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Gesicht glühte, wie das des jugendlichen Helden, der im Schultheater den
alten Mann spielte. Wenn ihm der Abgang seiner Töchter aufgefallen war, dann
hatte das seinem Glück keinen Abbruch getan.
     
    * * *
     
    Auf der Heimfahrt meinte Delia
zu Noah, sie fände seine Mutter sehr hübsch. Was allerdings nicht ganz stimmte.
Sie fand Ellie zu aufgetakelt, der schrille Farbkontrast kam auf dem Bildschirm
besser zur Geltung als in natura. Eigentlich suchte sie nur einen Aufhänger, um
über sie zu reden. Noah antwortete lediglich: »Genau«, trommelte mit den
Fingern und schaute aus dem Seitenfenster.
    »Und du sahst auch gewaltig gut
aus«, sagte sie.
    »Klar.«
    »Glaubst du mir nicht? Na,
warte«, zog sie ihn auf. »Die nächste Hochzeit, auf die du gehst, ist
vielleicht schon deine.«
    Doch er lächelte nicht einmal. »Keine
Chance«, sagte er.
    »Wie bitte: du willst nicht
heiraten?«
    »Papa und ich haben bei Frauen
kein Glück«, meinte er düster. »Irgend etwas haben sie, womit wir nicht
klarkommen.«
    Sonst hätte sie vielleicht geschmunzelt,
doch jetzt war sie gerührt. Sie warf ihm einen Blick zu. Er starrte weiter aus
dem Fenster. Schließlich streckte sie die Hand aus und strich ihm übers Knie.
Dann fuhren sie wortlos den Rest des Wegs.
     
     
     
    16 »Wenn x das Alter ist, das
Jenny jetzt hat, und y das Alter, das sie hatte, als sie nach Kalifornien
zog...«, sagte Delia. T. J. Renfro ließ seinen Kopf auf den Küchentisch sacken.
    »Komm, T. J., das ist doch
nicht schwer! Sieh mal, wir wissen, daß sie drei Jahre jünger ist als ihre
Freundin damals in Kalifornien, und wir wissen, daß ihre Freundin — «
    »Im wirklichen Leben kann ich
damit sowieso nichts anfangen«, setzte er sie mit ersterbender Stimme in
Kenntnis.
    Seine Haare sahen aus, als sei
der Friseur nicht fertig geworden — oben mittellang, aber hinten lange,
schwarze fettige Strähnen. Über seine beiden Oberarme ringelten sich
Stacheldrahttätowierungen, und an seiner schwarze Lederweste gab es mehr
Reißverschlüsse als an anderer Leute gesamter Garderobe. Im Gegensatz zu Delias
übrigen Schülern gab sie T. J. nicht in der High-School Nachhilfeunterricht,
sondern zu Hause. Er war bis zum ersten Mai vom Unterricht suspendiert und
durfte das Schulgelände nicht betreten; statt dessen tauchte er jeden
Donnerstag um drei an der Hintertür des Millerschen Hauses auf. Weshalb er
suspendiert war, wollte Delia lieber nicht wissen.
    Sie meinte: »Dabei ist das
wirkliche Leben voll solcher Probleme! Die unbekannte Größe finden: das wirst
du noch oft genug müssen.«
    »Glauben Sie, ich mache so’n
Mädchen an und frage, wie alt sie ist«, sagte T. J. und hob den Kopf, »und die
antwortet: ›Also vor zehn Jahren war ich doppelt so alt wie meine dritte
Kusine, die...‹«
    »Ach, du verstehst nicht, worum
es geht«, sagte Delia.
    »Und warum besucht diese Jenny
‘n Mädchen, das drei Jahre jünger ist? Ist doch sinnlos.«
    Das Telefon läutete, und Delia
stand auf.
    »Also wahrscheinlich hat sie
nur getan, als besucht sie ihre Freundin, und ist in Wirklichkeit mit ihrem
Freund im Motel gewesen«, sagte T. J.
    Delia nahm den Hörer ab. »Hallo?«
    Stille.
    »Hallo!«
    Eingehängt. »Das passiert in
letzter Zeit andauernd«, meinte Delia, als sie auch einhing. Sie setzte sich
wieder.
    »Elektrosmog«, meinte T. J.
    »Smog?«
    »Wenn man die Leitung ‘ne Zeitlang
nicht benutzt, also, staut sich die Energie, also, und strahlt, also,
unkontrolliert, und davon klingelt das Telefon.«
    Delia neigte aufmerksam den
Kopf zur Seite.
    »Passiert bei meiner Mutter zu
Hause mehrmals die Woche«, erklärte T. J.
    »Hier passiert das eher
mehrmals am Tag«, versetzte Delia.
    Wieder läutete das Telefon. Sie
sagte: »Hörst du?«
    »Gehen Sie einfach nicht ran.«
    »Dann werd’ ich verrückt .«
    Er lehnte seinen Stuhl zurück und
betrachtete sie. Das Telefon läutete zum drittenmal, viertenmal. Dann öffnete
sich die Hintertür und, mit einem Schwall frischer Luft, platzte Noah herein.
Er warf seinen Schulranzen beiseite und ging ans Telefon. »Hallo?«
    In der folgenden Pause beobachteten
ihn T. J. und Delia konzentriert.
    »Nee, das kann ich, glaub ich,
nicht«, sagte Noah. Er drehte ihnen den Rücken zu. »Ich kann nicht, mehr
nicht.« Pause. »Das stimmt nicht, ehrlich! Ich habe nur soviel Hausaufgaben und
so. Also, ich mach’ jetzt Schluß. Bye.« Er hing ein.
    »Wer war das?« fragte Delia.
    »Niemand.«
    Er schwang den Rucksack über
eine

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