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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Schulter und ging hinaus in sein Zimmer.
    T. J. und Delia sahen sich an.
     
    * * *
     
    Am nächsten Nachmittag, einem
kühlen, sonnigen Freitag, ging Delia mit Vanessa zum Stricksachen-Schlußverkauf
zu ›Junge Männermode‹. Der Frühling stand vor der Tür, und Noah war aus seinen
sämtlichen Sachen vom letzten Frühjahr herausgewachsen. Es war ein quälend
langsamer Ausflug, weil Greggie mitten in seiner Trotzphase steckte und sich
weigerte, im Buggy zu sitzen. Schrittchen für Schrittchen wollte er unbedingt
den ganzen Weg allein laufen. Delia hatte den Eindruck, Bay Borough noch nie so
in allen Einzelheiten wahrgenommen zu haben — jeden Getränkebecherdeckel auf
dem Gehweg, jeden Spatz, der in der Gosse einen Alufolienschnipsel pickte. Erst
gegen drei Uhr traten sie den Rückweg an. »Oh-oh«, sagte Delia, »schon so spät!
Noah ist bestimmt vor mir zu Hause.«
    »Geht er heute nicht zu seiner
Mutter?« fragte Vanessa.
    »Diese Woche nicht.«
    »Ich dachte, jeden Freitag.«
    »Ich glaube, es ist irgendwas
dazwischengekommen.«
    Sie standen an der Ecke, wo
sich ihre Wege trennten, und Delia sagte: »Bye, Greggie. Bye, Vanessa.«
    »Bis bald, Dee«, sagte Vanessa.
»Wir sollten Belle fragen, ob wir uns am Wochenende treffen.«
    »Ich habe noch nichts vor.«
    Belle hielt zur Zeit alle
Wochenenden für Mr. Lamb frei, aber das blieb Delias Geheimnis.
    In der Grundschule strömten die
Kinder schon auf den Spielplatz. Delia mühte sich nicht, Noah ausfindig zu
machen. Sie wußte, er ging lieber mit seinen Freunden nach Hause. Sie tat einen
Schritt über ein herrenloses Skateboard, das ihr entgegenrollte, lächelte über
ein kleines Mädchen, das sein Schreibzeug einsammelte, und übersah höflich eine
Mutter, die sich neben ihrem Auto mit ihrem Sohn stritt.
    Halt. Der Sohn war Noah. Die
Mutter war Ellie.
    Sie trug den cremefarbenen
Mantel von der Hochzeit, aber sonst wirkte sie erschöpft und ungepflegt. Ellie
versuchte Noah auf den Beifahrersitz zu zerren. Und Noah wehrte sich, seine
Jacke war auf den Unterarm verrutscht. »Mama«, sagte er immerzu. »Mama. Hör
auf.«
    Delia sagte: »Noah?«
    Beide warfen ihr den gleichen
irritierten Blick zu und rangelten dann weiter. Ellie drückte Noahs Kopf mit
Gewalt abwärts, wie Polizisten im Fernsehen, wenn sie einen Verhafteten in
Handschellen in den Streifenwagen verfrachteten.
    »Was ist hier los?« fragte
Delia. Sie schnappte nach Ellies Handgelenk. »Lassen Sie ihn!«
    Ellie schmetterte sie so heftig
beiseite, daß sie Delias Gesicht traf; ihr Ring mit dem scharfkantigen Stein
schrammte Delias Stirn. Noah hatte sich inzwischen freigewunden. Er stolperte
ein paar Schritte zurück und zog seine Jacke zurecht. Sein Ranzen stand weit
offen, und sein Schulzeug war herausgerutscht. (Dieses Schulzeug hatte das
kleine Mädchen eingesammelt!) Er wischte sich mit der Faust die Nase und sagte:
»Mensch, Mama.«
    Ellie stand ganz aufrecht,
atmete schwer und starrte ihn an.
    Ehrfürchtig überreichte das
kleine Mädchen Noah sein Schulzeug. Er nahm es, ohne hinzusehen. Jetzt sah
Delia, daß zwei seiner Freunde dastanden — Kenny Moss und ein zweiter Junge,
dessen Name ihr nicht einfiel. Sie taten, als sähen sie nichts, und stießen
ihre Schuhspitzen in den Gehweg. Den anderen Kindern, die in Gruppen
vorbeizogen, schien nicht bewußt, daß etwas nicht stimmte.
    »Ich will nur, daß du mich
besuchst! Wie immer! Wie jeden Freitag!« schrie Ellie. »Ist das zuviel
verlangt?« Sie wandte sich Delia zu. »Ist das so —«
    Etwas bremste sie. Ihr Mund
öffnete sich.
    Noah sagte: »Oje!« Er starrte
auf Delias Stirn. »Delia! Igitt, du blutest ja.«
    Delia betastete ihre Stirn. An
ihren Fingern klebte es hellrot. Aber eigentlich tat nichts besonders weh — nur
ein leichtes Stechen an der Schläfe, seitlich, wo der Puls schlägt. Sie sagte:
»Oh, das macht nichts. Ich fahre nach Hause und — «
    Doch Noah machte große Augen,
und Kenny Moss sagte: »Mama mia!« und faßte den anderen Jungen am Ärmel, und
das kleine Mädchen meinte vorsorglich: »Ich falle in Ohnmacht, wenn ich Blut
sehe.«
    Halb ohnmächtig sah sie schon
aus — ihre Lippen waren fahl und bleich. Delia, solche Notfälle gewohnt,
befahl: »Dann sieh nicht hin.« Ihr selbst war überhaupt nicht schwindlig.
Anscheinend sah die Wunde schlimmer aus, als sie war. Nur um ihr Kleid sorgte sie
sich. »Irgendwo hier...« murmelte sie und kramte in ihrer Handtasche nach einem
Papiertaschentuch. Die Tüte von ›Junge

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