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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Männermode‹ war ihr hinderlich, und sie
reichte sie Noah, hinterließ oben, wo sie angefaßt hatte, klebrig rote
Fingerabdrücke. »Ich habe doch irgendwo...«
    Ein weicher geblümter
Zellstoffberg schob sich unter ihr Kinn — Ellies Angebot. »Es tut mir so leid«,
sagte sie. »Es war ein Unfall. Glauben Sie mir, Delia, ich wollte Sie nicht
verletzen.«
    »Ich weiß«, sagte Delia und
nahm die Taschentücher. Sie fühlte sich seltsam geschmeichelt, daß Ellie sie
beim Namen nannte. Sie drückte die Taschentücher an ihre Schläfe und fühlte
ihre Ader pochen.
    »Oh, Gott, wir müssen mit Ihnen
zum Arzt«, sagte Ellie.
    »Du meine Güte, ich brauche
keinen Arzt.«
    »Das können Sie gar nicht
beurteilen! Sie sind nicht bei Trost«, versetzte Ellie. Obwohl es eher Ellie
war, die nicht ganz richtig im Kopf schien; die Berge von Taschentüchern
herüberreichte (trug sie die alle lose in ihren Taschen, oder woher stammten die?)
und die anderen mit schriller Stimme kommandierte: »Los! Platz! Noah, du sitzt
hinten, Delia kommt nach vorn!«
    »Hier gibt es bestimmt eine
Schulkrankenschwester. Wieso gehen wir nicht zu der?« fragte Delia.
    Aber Ellie sagte: »Sie wollen
doch keine Narbe behalten, oder? Eine häßliche, entstellende Narbe?«
    Das war ein Argument; also ließ
sich Delia auf den Vordersitz schieben. Noah, der den Sitz vorgeklappt hatte,
um hinten einzusteigen, klappte ihn für Delia in Position. Als sie saß, beugte
er sich über ihre Schulter und hielt ihr ein graues Sweatshirt aus seinem
Ranzen hin. »Hier«, sagte er. »Die Tücher sind gleich durch.«
    Sie wollte etwas dagegen sagen
(Blutflecken gingen schlecht raus), aber er hatte recht, sie hatte die
Taschentücher verbraucht. Sie preßte das Sweatshirt an die Stirn, es roch nach
frischem Schweiß und Turnschuhen. Ellie rutschte hinters Lenkrad und ließ den
Motor an. »Wahrscheinlich müssen Sie genäht werden«, sagte sie und glitt in den
Verkehr. »Oh, neuerdings brauche ich nur etwas anzurühren, und schon nimmt die
Katastrophe ihren Lauf! Und ich stehe mit offenem Mund da und kann’s nicht
fassen!«
    »Das Gefühl kenne ich«, meinte
Delia. Sie wagte einen Blick unter ihrem Sweatshirt hervor. Von nahem schien
Ellie sympathischer. Ihr Lippenstift war nur noch ein matter Umriß, und ihre
Augenlider wirkten schlaff.
    »Zeitweise kenne ich mich
selbst nicht mehr«, sagte Ellie. »Das hört man zwar andauernd, aber bisher habe
ich es immer für eine Redensart gehalten. Jetzt stehe ich plötzlich neben mir,
sehe mir wie einer wildfremden Person zu und frage mich: ›Was die sich
dabei wohl denkt?‹«
    Sie bogen links in die Weber
Street. Delia legte das Sweatshirt neu zusammen. Jetzt begriff sie, warum rote
Rosen so gern vor graue Mauern gepflanzt wurden. Die Blutflecken kamen auf dem
Sweatshirtstoff erst richtig zur Geltung, sie hätte es den anderen gern
gezeigt. Aber Ellie redete immer noch wie ein Wasserfall. »Ich gebe zu, ich bin
aus dieser Ehe weggegangen«, sagte sie. (Delia versuchte sich an die letzten
Sätze zu erinnern, überlegte, ob ihr eine wesentliche Überleitung entgangen
war.) »Sie brauchen mich nicht zu erinnern! Ich malte mir immer aus, wie ich in
den Himmel kam und Gott sagte: Die reine Verschwendung! Ich habe dich auf die
Welt geschickt, und du hast nichts daraus gemacht; hast nur auf einem Fleck
gehockt und gejammert, wie du dich langweilst. Also bin ich abgehauen. Aber als
ich Sie bei der Hochzeit sah, als ich sah, wie — also, ich hatte wohl gedacht,
Sie sind älter und dicker und tragen ein Kleid mit Reißverschluß vorn. Ich
weiß, ich habe mich danebenbenommen, einfach Joel anzurufen...«
    Ellie hatte Joel angerufen?
    »Beim Wählen habe ich mir
zugesehen und gesagt: ›So ‘ne Dummheit, wer macht nur so was!‹ Aber getan habe
ich’s trotzdem. Und dabei wollte ich ihm die kalte Schulter zeigen. ›Ich hab’
mir’s überlegt, Joel‹, wollte ich sagen, ›vielleicht überläßt du mir das
Sorgerecht, jetzt wo du wieder weibliche Gesellschaft hast.‹ Er hat Ihnen
sicher erzählt, wie das ausgegangen ist. Kaum höre ich ihn, packt es mich
wieder. ›Wie kannst du Noah das antun! Ein unschuldiges Kind in das schlüpfrige
kleine Liebesnest hineinzuziehen, das du dir eingerichtet hast!‹«
    Liebesnest! Delia spitzte die
Ohren...
    »Und nicht genug, ich ziehe auch
noch Noah mit hinein. Es tut mir leid, mein Herz!« sagte Ellie in den
Rückspiegel. Noahs Reaktion wartete sie nicht ab. »Und Sie wissen ja, wie
herzlos

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