Kleine Abschiede
sie noch das Sweatshirt um
ihren verletzten Kopf gewickelt, aber immerhin waren sie in Sicherheit.
Auch Ellie hatte mittlerweile
ihre Tür geöffnet, ein vorbeifahrender Lastwagen hupte warnend. Das dumpfe
Hupen dröhnte in Delias Brust. Plötzlich tat ihr Herz einen Satz, als wäre die
Gefahr erst jetzt zu ihm durchgedrungen. Sie waren bei Rot über die Ampel
gefahren! Ohne rechts oder links zu gucken, waren sie in den Autobahnverkehr
gebraust! Beim bloßen Gedanken überlief es sie eiskalt. Im Geist spürte sie den
Aufprall, so haarscharf waren sie einem Zusammenstoß entkommen.
»Wir könnten tot sein!« schrie
sie, und Ellie lief ihr entgegen und rief: »Ich weiß! Ein Wunder, wir leben
noch!« Sie umarmte Delia und Noah stürmisch. Noah sagte: »Mama«, und befreite
sich, aber Delia umarmte Ellie auch. Beide Frauen waren den Tränen nah. Ellie
sagte immerzu: »Oh, Gott, oh, Gott«, und lachte und wischte sich die Augen.
»Mama«, sagte Noah, der neben
ihnen stand, wieder. »Können wir nicht doch zu Dr. Norman fahren, bitte?«
»Wir erzählen ihm, ich habe mir
den Kopf gestoßen«, sagte Delia. »Er wird sich überhaupt nichts dabei denken.«
»Ihr habt recht«, sagte Ellie.
»Das tun wir. Los, hoffentlich traue ich mich wieder zu fahren.«
Also stiegen sie alle wieder in
den Wagen, der übrigens auch ein Plymouth war, nur ein, zwei Jahre jünger als
Delias Plymouth; und Ellie wartete, bis weit und breit kein anderer Wagen mehr
in Sicht war, bevor sie auf die rechte Fahrspur wechselte und bis zum nächsten
Wendepunkt fuhr. Erst als sie wieder auf dem Highway 380 waren, traute sie sich
zu sprechen, so sehr konzentrierte sie sich aufs Fahren. Dann fragte sie Noah,
was er denn seinem Vater erzählen würde.
Noah schwieg einen Moment, aber
schließlich sagte er: »Das gleiche wie Dr. Norman, oder? Du hast uns von der
Schule nach Hause gefahren? Delia hat sich den Kopf gestoßen?«
»Ich habe mich beim Einsteigen
an der Wagentür gestoßen«, schlug Delia vor.
»Oh, gut«, sagte Ellie, und
ihre Hände entkrampften sich am Lenkrad.
Wahrscheinlich hatte sie ihre
Befürchtungen wegen Delia gehabt. Daß Noah sie nicht verriet, war ihr sicher
klargewesen; er wahrte so beunruhigend kalt und stoisch seine Geheimnisse, wie
das Kinder in schwierigen Ehen oft tun.
»Und eigentlich ist es ja auch
beinah so passiert«, sagte Ellie. »Wir sind in eine dieser atmosphärischen
Störungen hineingeraten, stimmt’s? Habe ich recht?«
»Natürlich«, bestätigte Delia.
Ellie bremste und bog in die
Border Street ein. »Ob ihr’s glaubt oder nicht«, sagte sie, »eigentlich bin ich
ein sehr gefestigter Mensch. Nur in letzter Zeit war ich ständig unter Druck.
Oh, vor der Kamera stehen ist viel nerviger, als ich dachte! Ständig muß ich
auf mein Gewicht achten, ständig aufpassen, daß ich meine acht Stunden Schlaf
bekomme, auf meinen Teint achten. Seht ihr?« Obwohl sie gerade einparkte,
bremste sie und griff eine Haarsträhne. »Bleichen, Packungen, Dauerwellen,
Färben...« Sie zog die Strähne straff, ließ sie wieder los. »Seht ihr, wie lang
es eigentlich ist, und dann schnurrt alles zusammen, boing? Das sind keine
Haare; das sind, na was — Zaubergummis. Und wenn ich nur mal so lange
freihätte, daß meine Augenbrauen nachwachsen können!«
Ein Reifen des Wagens rieb am
Bordstein. »Außerdem hat meine Schwester nicht mehr alle Tassen im Schrank und
macht mich wahnsinnig wegen Vaters Hochzeit, von Vater selbst ganz abgesehen.
Was geht in ihm vor, in dem Alter noch mal von vorn anzufangen? Er ist
siebenundsechzig, und obendrein hat er ständig Schmerzen, ist Ihnen das
aufgefallen? Was meinen Sie, warum Noah nur so kurz kommen darf? Sein Lieblingsenkel,
aber nach einer Stunde ist Papa fertig!«
»Oh, der Ärmste«, sagte Delia.
Sie öffnete die Tür und stieg aus, hielt immer noch das Sweatshirt an den Kopf.
Die Dringlichkeit ihrer Erledigung schien ein wenig in Vergessenheit geraten zu
sein, stellte sie fest. Sie kippte für Noah den Sitz vor, und er hüpfte nach
ihr heraus. »Was habe ich geschuftet, als er dahin zog!« meinte Ellie und
schlug die Tür zu. »Wie viele Kisten ich gepackt habe! Als führe er ins
Zeltlager, oder so. Hast du auch das Richtige anzuziehen? Was haben denn die
anderen Kinder an? Und jetzt muß er fürchten, daß sie ihn rausschmeißen.«
»Rausschmeißen!« erschrak
Delia.
Sie stiegen die Stufen zu einem
großen, von einer Veranda umgebenen Holzhaus hoch. Noah ging voran.
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