Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
angekommen. Damals hast du das einfach übersehen, und als es Zeit
war, hat sie einen Rock angezogen.«
    »Einen Rock und ihr
Schlafanzugoberteil, und ich habe ihr ein Halstuch umgebunden, damit man die
dicken Druckknöpfe nicht sah. Es war ein Kompromiß. Da liegt der Unterschied.«
    Dennoch war sie gerührt. Sie
wußte nicht genau, warum. Vielleicht weil sie in dieser Geschichte so eine
wichtige Rolle spielte; als hätte er sie sich damals genau gemerkt, um jetzt,
Jahre später, dementsprechend zu handeln.
    Sie blieb noch einen Augenblick
im Flur, falls er ihr sonst noch etwas sagen wollte, aber anscheinend war das
nicht der Fall. Er drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Delia strich sich
das Kleid glatt, rückte den Gürtel zurecht (es sollte nicht so aussehen, als
liefe sie ihm nach) und folgte ihm.
    Im Arbeitszimmer war noch kein
Licht, und alle saßen in bleiernem Grau vor dem laufenden Fernseher — Velma und
die Jungen auf dem Sofa, Rosalie auf dem Boden zwischen den Füßen ihrer Mutter.
Alle sahen auf Sam und Delia, als sie hereinkamen. »Was gibt’s zu Mittag?«
fragte Carroll.
    Delia sagte: »Mittag!«
    »Wir sterben vor Hunger.«
    Sie sah auf die Uhr. Es war
nach eins. Sie sah Sam an, was er dazu zu sagen hatte (die Küche war ja nicht
mehr ihre Domäne; der Haushalt ebenfalls nicht), aber er reagierte nicht. Dann
waren oben Schritte zu hören.
    »Driscoll«, sagte Sam.
    Rosalie betrachtete weiter mit
offenem Mund die Seifenoper im Fernsehen, aber die anderen gingen in den Flur —
Velma und die Jungen erhoben sich in formvollendeter Langeweile, streckten
sich, bewegten sich beinah in Zeitlupe, nur um nicht überinteressiert zu
erscheinen. Sie bildeten eine Gruppe unten an der Treppe und sahen zu, wie Driscoll
herunterkam.
    Er war ziemlich aus der
Fassung. Die Haare standen ihm zu Berge, und seine Krawatte hing unordentlich
gelockert. Unten angekommen, schüttelte er den Kopf.
    »Keine Hochzeit?« fragte Delia.
    »Keine, würde ich nicht sagen.«
    »Was dann?«
    »Sie sagt, sie haßt mich und
ich sei kein guter Mensch und sie hat begriffen, daß sie mich sowieso nie
geliebt hat.«
    »Also, keine Hochzeit«,
sinnierte Delia laut.
    »Aber wenn ich sie umstimmen
will, weiß ich, was ich zu tun habe.«
    »Was hast du zu tun?«
    »Ich weiß nicht«, sagte
Driscoll.
    Sam schnaubte und bewegte sich
in Richtung Wohnzimmer.
    »Blumen schicken?« schlug Velma
vor. »Ein klingendes Telegramm?«
    »Ich sage dir, ich weiß es
nicht. Ich habe gefragt: Kannst du mir keinen Tip geben? Sie meinte: ›Dir fällt
schon was ein.‹ Und wenn nicht, meinte sie, dann sollten wir nicht heiraten.«
    »Schick ihr einen Luftballon
mit einer aufgedruckten Botschaft!« ließ Velma nicht locker.
    »Und was darauf?« fragte
Driscoll.
    »Driscoll«, sagte Delia, »deine
Mutter möchte dich, glaube ich, sprechen.«
    »Oh! Okay«, sagte er träge.
    Er stand da und dachte einen
Augenblick nach. Dann zuckte er mit den Achseln, öffnete die Haustür und ging —
ohne Regenmantel, ohne Schirm, ohne irgend etwas. Es regnete so stark, daß die
Tropfen auf dem Verandageländer hochsprangen.
    »Er könnte es per Flugzeug an
den Himmel schreiben lassen!« sagte Velma, nachdem er gegangen war.
    »Mama«, sagte Carroll, »können
wir nicht einfach essen?«
    »Ich koche gleich etwas«,
beruhigte sie ihn.
    Warum auch nicht? Sonst würde
ja doch keiner einen Finger rühren.
     
    * * *
     
    Delia stellte Essen für Susie
auf ein Tablett, brachte es nach oben in ihr Zimmer. Sie fand sie schlafend,
das Bettdeckenknäuel unter sich — eigentlich kein Wunder. Für Susie war Schlaf
das Allheilmittel; in Zeiten emotionaler Krisen zog sie sich zurück und verlor
damit ganze Tage. Oh, wie anders all ihre Kinder waren; es faszinierte sie
immer aufs neue! Sie empfand es als ein Geschenk des Himmels — so erfuhr sie
aus nächster Nähe die widersprüchlichsten Lebensgewohnheiten.
    »Susie, meine Kleine«, sagte
sie. Susie öffnete die Augen. »Ich dachte, vielleicht möchtest du etwas essen«,
redete Delia auf sie ein.
    »Danke«, sagte Susie und
rappelte sich schlaftrunken hoch, bis sie saß.
    Delia stellte ihr das Tablett
auf den Schoß. »Dein Lieblingsessen. Ingwer-Käse-Kuchen,
Jüdische-Großmutterkekse...«
    »Toll, Mama«, sagte Susie und
breitete ihre Serviette aus.
    »Zitronencremetörtchen, Mousse
au Chocolat...«
    Susie betrachtete das Tablett.
    »Alles vom Hochzeitsbuffet«, erklärte
Delia. »Sonst gab es in der Küche nicht viel

Weitere Kostenlose Bücher