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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Schornstein entlang. Sie schenkte
ihm keine Beachtung und betrat das Zimmer, das sie mit Sam teilte. Es war klein
und roch muffig, das einzige Fenster hatte keinen Vorhang. Vorsichtshalber zog
sie sich im Dunkeln aus und machte dann Katzenwäsche im Badezimmer auf der
anderen Seite des Flurs. Wieder im Schlafzimmer, knipste sie die Lampe an und
richtete den schwachen gelben Strahl auf ihr Kopfkissen. Dann rutschte sie
unter die Bettdecke, wackelte genüßlich mit den Zehen und schlug ihr Buch auf.
    Die Heldin dieses Romans hieß Eleanora,
was Delia unglückseligerweise an Eleanor erinnerte. Eleanoras lange
rabenschwarze Locken und ihr ›pikantes‹ Gesicht wichen immer wieder Eleanors
Keine-Experimente-Haarschnitt und ihrem entschlossenen Eiserne-Mama-Kinn; und
als Kendall, der Held, sie an sich preßte, sah Delia Eleanor einen prüfenden
Blick über seine breite Schulter werfen. Kendall war Eleanoras zukünftiger
Schwager, der jüngere Bruder ihres aristokratisch aalglatten Verlobten.
Ungestüm entführte Kendall Eleanora prompt, als er sie das erste Mal zu Gesicht
bekam, genauer gesagt, eine Viertelstunde vor ihrer Hochzeit. Den Rest des
Romans brauchte Eleanora, um zu begreifen, daß sie bei ihrem Entführer
tatsächlich besser dran war als bei ihrem Verlobten, und ein Grund, warum Delia
die Geschichte so langweilig fand, war, daß Eleanora so lange zu einer so
offenkundigen Einsicht brauchte. »Ich werde dich niemals heben! Niemals!« rief
sie aus und hämmerte mit ihren winzigen Fäusten auf seine Brust, doch Kendall
ergriff ihre Handgelenke und wartete voll männlichem Selbstvertrauen, bis sie
sich ergab.
    Delia klappte das Buch zu, ließ
einen Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten. Sie betrachtete das sich
umarmende Paar auf dem Umschlag.
    Nicht ein einziges Mal seit
ihrem Kennenlernen hatte Adrian sie wirklich umworben. Alles war reiner Zufall
gewesen. Rein zufällig hatte er sie gebeten, seine Freundin zu spielen (wer
sonst wäre in Frage gekommen? Die Frau mit dem Baby? Die alte Dame an der
Kasse?), und der Zufall wollte es, daß sie sich ein paar Tage später nachts in
die Arme liefen. Außerdem verriet die ganze Geschichte an sich schon, daß er
seine Frau noch liebte. Er liebte sie so sehr, daß er ihr nicht einmal allein
im Supermarkt gegenübertreten konnte, seit sie fort war, kriegte er im gemeinsamen
Schlafzimmer kein Auge mehr zu. Aber Delia, wie ein unaufgeklärtes
minderjähriges Gör, hatte es nicht sehen wollen.
    Und andere Hinweise hatte sie
ebenfalls übersehen — Hinweise, die auf seinen Charakter deuteten. Zum Beispiel
sein Benehmen beim Kennenlernen: wie er ihre Einkaufspläne
durcheinandergebracht hatte, wie herablassend er über die Namen der Leute in
Roland Park geredet hatte, seine schicken Lebensmittel. Er war kein schlechter
Mensch, bestimmt nicht, aber er hatte nur sich selbst im Sinn. Und er war etwas
oberflächlich.
    In Liebesromanen hätte diese
Feststellung sie dankbar zurück in die Arme des Mannes geführt, der die ganze
Zeit in den Kulissen nur auf das Stichwort zu seinem Auftritt gewartet hatte.
Aber im wahren Leben schloß sie schnell die Augen, als sie Sams Schritte auf
der Treppe hörte, und stellte sich schlafend. Sie spürte, daß er sie
betrachtete und ihr das Buch aus den Händen nahm. Dann knipste er das Licht aus
und verließ das Zimmer.
     
    * * *
     
    Am Morgen hatte es aufgehört zu
regnen, und die Sonne stand am Himmel, strahlte um so heller in der
frischgewaschenen Luft. Die ganze Familie macht sich kurz vor Mittag auf den
Weg zum Strand — die Erwachsenen in Sams Ford, die jüngeren im Plymouth mit
Ramsay am Steuer. Vereinzelte Pfützen spritzten unter ihren Reifen auf, als sie
über den Highway i fuhren, vorbei an den stattlicheren Cottages, näher am
Wasser. Als die Straße in einer Sackgasse endete, parkten sie, fütterten die
Parkuhren mit Münzen und luden ihr tägliches Drum und Dran ab — die
Thermoskannen und Badelaken, Handtücher, Styroporkühltaschen, Schlauchboote und
Strandtaschen. Delia trug einen Stapel Handtücher, und ihre Strohtasche war so
vollgestopft mit Utensilien für alle Notfälle, daß ihr die Riemen in die bloße
Schulter schnitten. Sie trug ihren rosakarierten Badeanzug und den Rock mit der
Spitze am Saum, dazu marineblaue Espadrilles, aber keinen Bademantel oder
Frotteeponcho; es war ihr ganz egal, was Sam sagte, sie wollte wenigstens einen
Hauch braun werden.
    »Paßt auf, Mädchen«, ermahnte
Linda die Zwillinge, die eine

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