Kleine Abschiede
Kühltasche über den hölzernen Strandsteg
schleppten. »Ihr schleift die Tasche über den Boden.«
»Das kommt, weil Thérèse nicht
richtig mitträgt!«
»Stimmt nicht!«
»Stimmt doch!«
»Habe ich nicht gesagt, ihr
sollt etwas Leichteres nehmen?« wetterte Linda. »Hab ich nicht gesagt, ihr
sollt die Handtücher — «
Doch dann hatten sie die flache
Sanddüne überwunden, und da lag das Meer, der eigentliche Grund ihrer langen
Reise. Oh, jedes Jahr vergaß Delia es fast. Der weite, schiefergraue,
grenzenlose Horizont, der fruchtbare, faulige Geruch wie Hundeatem, das
ständige Rauschen, hin und her, die ganze Zeit, während sie fort war und sich
mit lauter Nichtigkeiten abgegeben hatte! Sie blieb stehen; ihre Augen ruhten
auf den goldenen Sonnenflecken, die überm Wasser auf- und abglitten; und dann
rammte Carroll ihr die Schlauchboote, die er unterm Arm trug, in den Rücken und
sagte: »Mensch, Mama.«
»Oh, Entschuldigung«, sagte
sie. Die Holztreppe hinab, ging sie zum Strand.
Es hatte seine Vorteile, so
früh in der Saison hierher zu kommen. Es stimmte, das Wasser war noch nicht
warm, doch dafür war am Strand weniger los. Badelaken wurden in erträglichen
Abständen ausgebreitet, dazwischen war reichlich Platz. Nur ein paar Kinder
planschten vorn in der Brandung, und Delia konnte mühelos die Köpfe zählen, die
weit hinten in den Wellen auf- und abhüpften.
Sie und Eliza breiteten ein
Badelaken auseinander und machten es sich darauf bequem; Sam bohrte einen
Sonnenschirmstiel in den Sand. Susie und die Jungen zogen gute zehn Meter
weiter, machten dann erst halt, richteten ihren eigenen Platz ein. Seit einigen
Jahren schon blieben sie lieber für sich; mittlerweile verletzte es Delia nicht
mehr. Dennoch war es ihr immer bewußt.
»Hört her, ihr beiden, ihr
rührt euch nicht vom Fleck«, erklärte Linda den Zwillingen, »bevor ich euch
nicht von oben bis unten mit Sonnenschutz eingeschmiert habe.« Sie hielt sie
dicht an sich, eine nach der anderen, und verrieb Sonnenmilch auf ihren dünnen
Armen und Beinen. Kaum war sie fertig, rannten die beiden auf und davon zur
Jugend.
Susies Radio spielte ›Under the
Boardwalk‹, Delia fand, das Lied hatte etwas Schwermütiges. ›Under the
Boardwalk‹ tönte auch von anderen Radios auf anderen Strandlaken, so daß der
Atlantik seine eigene melancholische Hintergrundmusik hatte.
»Ich glaube, ich laufe mal ‘ne
Runde«, sagte Sam zu Delia.
»Oh, Sam. Es sind doch Ferien!«
»So?«
Er streifte seine Badejacke ab
und schnallte das Lederarmband seiner Uhr fest. (Die Uhr war offensichtlich
Bestandteil seines neuen Übungsplans; aber in welcher Hinsicht, war Delia
unklar.) Dann ging er in Richtung Brandung, machte kehrt und begann nach Norden
zu laufen, eine schmächtige Gestalt in beigen Shorts und riesengroßen weißen
Turnschuhen.
»Wenigstens gibt es hier
überall Strandwachen, die Herz-Lungen-Massage können«, sagte Delia zu ihren
beiden Schwestern. Sie faltete Sams Badejacke zusammen und steckte sie in ihre
Strohtasche.
»Oh, es tut ihm sicher gut«,
sagte Eliza. »Die Ärzte haben ihm geraten zu joggen.«
»Aber nicht zu übertreiben!«
»Mir kommt er völlig
unverändert vor«, sagte Linda. »Falls das für dich ein gutes Zeichen ist.« Sie
hob die Hand gegen die blendende Sonne in Stirnhöhe und schaute ihm nach. »Ich
wäre nie auf die Idee gekommen, daß er einen Herzinfarkt hatte.«
»Es war kein Herzinfarkt! Es
waren Herzbeschwerden.«
»Egal«, sagte Linda
gleichgültig.
Sie trug einen einteiligen
Badeanzug, von dessen Ausschnittmitte eine Kordel um den Hals lief. So hingen
ihre Brüste an jeder Seite wie Augen, die vor Erschöpfung gleich zufallen.
Eliza, die es absolut unnötig fand, für eine einzige Woche jährlich am Strand
sich extra eine Garderobe zuzulegen, trug Jeans-Shorts und darüber ein
schwarzes schulterfreies Trikotoberteil, das sie unterhalb ihres Büstenhalters
hochgerollt hatte.
Delia zog ihre Schuhe aus und
warf sie in ihre Tasche. Dann legte sie sich flach auf den Rücken, ließ die
milde Sonnenwärme in ihre Haut sickern. Nach und nach schienen die Geräusche
schwächer, wie Geräusche in der Erinnerung — die Stimmen der anderen
Strandgäste nahebei, die hohen, traurigen Schreie der Möwen, die Radiomusik
(nun Paul McCartney, der ›Uncle Albert‹ sang), und alles untermalend, so daß
sie es beinah nicht mehr hörte, die Ozeanwellen, beständig und unveränderlich
wie Meeresrauschen in einer Muschel.
Sie
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