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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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hatte mit Sam an diesem
Strand ihre Flitterwochen verbracht. Sie hatten in einem Gasthaus in der Stadt
gewohnt, das nicht mehr existierte, und jeden Morgen hatten sie hier draußen
Seite an Seite gelegen, die bloßen, feinbehaarten Arme kaum einander berührend,
und hatten über kurz oder lang einen solchen Zustand erreicht, daß sie sich
beeilten, wieder in ihr Zimmer zu gelangen. Einmal war ihnen selbst das zu lang
erschienen, und sie waren statt dessen ins Meer getaucht, hinter die hohen
Wellen, und sie wußte noch, wie sie den Gegensatz empfunden hatte: seine
warmen, knochigen Beine um ihre Beine im seidigkühlen Wasser — und wie sein
Gesicht ganz nach Fisch roch, als sie sich küßten. Doch im nächsten Sommer
kamen sie mit dem Baby (Susie, zwei Monate alt und anstrengend, anstrengend,
anstrengend) und in späteren Jahren mit den Jungen. Selten hatten sie
wenigstens gemeinsam am Strand gelegen, ganz abgesehen von heimlichen
Abstechern zurück in ihr Cottage. Eliza war mitgekommen, und Linda, noch vor
ihrer Heirat, und ihr Vater, weil er nie allein hätte zu Hause bleiben können;
und Delia hatte Tage knöcheltief vorn in der Brandung verbracht, hatte die
Kinder beaufsichtigt, aufgepaßt, daß sie nicht ertranken, bewundert, was sie
dazugelernt hatten. »Mama, guck mal.«
    »Nein, du sollst hierher gucken!« Früher fanden die Kinder, sie sei das Wichtigste in ihrem Leben.
    Füße gingen über den Sand,
knirschten wie Samt, und sie öffnete ihre Augen und setzte sich. Einen Augenblick
schwindelte ihr ein wenig. »Du hast ein ganz rotes Gesicht«, sagte Eliza. »Du
solltest dich einreiben.« Sie selbst saß vernünftig im Schatten des
Sonnenschirms.. Linda stand unten in der Brandung, trotzte den Wellen mit
ausgestreckten molligen Armen und Händen, die wie Vogelflügel auf- und
niederschwangen. Die Zwillinge waren zurückgekehrt und füllten neben Delia ihre
Sandeimer. Feuchter Sand klebte an Marie-Claires Knien und malte zwei Kreise
auf den flachen Hosenboden von Thereses Badeanzug.
    »Ist Sam vom Joggen zurück?«
wollte Delia von Eliza wissen.
    »Noch nicht. Hast du Lust zu
schwimmen?«
    Dieser Frage gönnte Delia keine
Antwort. (Schließlich wußte eigentlich jedes Familienmitglied, daß es draußen
glühend heiß sein mußte, der Ozean spiegelglatt und weit und breit keine Qualle
in Sicht, bevor sie sich ins Wasser wagte.)
    Statt dessen griff sie ihre
Strandtasche. Sie förderte unter ihren Espadrilles, Sams Badejacke und ihrer
Brieftasche Die Gefangene von Schloß Clarion zutage. Eliza räusperte
sich aufreizend, als sie den Titel sah. »Dann überlasse ich dich wohl dem Literaturstudium«, sagte sie zu Delia. Sie stand auf und ging davon, klopfte geschäftig den Sand
hinten von ihren Shorts.
    »Tante Eliza, können wir
mitkommen?« schrie Marie-Claire.
    »Warte auf uns, Tante Liza!«
    Als sie so flink und langbeinig
hinter ihr herrannten, glichen sie zwei kleinen Einsiedlerkrebsen.
    Eleanora begriff langsam, daß
Kendall nicht das Untier war, für das sie ihn gehalten hatte. Er brachte ihr
Essen in ihr Turmgefängnis und setzte sie in Kenntnis, daß er alles selbst
gekocht hatte. Eleanora tat unbeeindruckt, doch später, als er gegangen war,
überlegte selbst sie, wie ungereimt es war, daß so ein Muskelprotz am Herd in
den Töpfen rührte.
    »Puu!« sagte Sam, der zurückgekehrt
war. Schweiß rann ihm von der Brust, und er wirkte nach seinem Lauf erschöpft,
abgekämpft, atemlos, was Delia immer sorgte. »Sam«, sagte sie und legte ihr
Buch beiseite, »du bringst dich noch um! Setz dich und ruh dich aus.«
    »Nein, ich muß langsam auslaufen«,
erklärte er. Er umkreiste das Badelaken, blieb ab und zu stehen, machte eine
Rumpfbeuge, umfaßte seine Knie. Schweißtropfen fielen von seiner Stirn in den
Sand. »Was haben wir zu trinken?« fragte er.
    »Limonade, Pepsi, Eistee — «
    »Eistee klingt gut.«
    Sie stand auf und füllte einen
Pappbecher, den sie ihm reichte. Immerhin keuchte er nicht mehr so
fürchterlich. Er trank den Becher in einem Zug aus und stellte ihn auf den
Deckel der Kühltasche. »Du kriegst einen Sonnenbrand auf der Nase«, sagte er zu
ihr.
    »Ich möchte wenigstens ein bißchen Bräune abbekommen.«
    »Hautkrebs bekommst du.«
    »Nach dem Mittagessen reibe ich
mich vielleicht —«
    Aber er hatte schon Lindas
Sonnenlotionflasche gegriffen. »Halt still«, sagte er und drehte den Verschluß
auf. Er begann die Flüssigkeit in ihrem Gesicht zu verteilen. Es roch nach
matschigen

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