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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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strafrecht. Auch diese Tür ließ
sich öffnen, als Delia den Versuch unternahm. Sie trat in einen
walnußgetäfelten Raum, in dessen Mitte ein Schreibtisch stand, die Rezeption.
Niemand saß dort, stellte sie erfreut fest. Nirgends war irgendwer zu sehen;
doch hinter einer anderen, kunstvoll verzierten Tür hörte sie eine
Männerstimme, die innehielt, dann wieder einsetzte, dazwischen Schweigen,
offenbar telefonierte jemand.
    Sie trat an den Schreibtisch,
auf dem nur Telefon und Schreibmaschine standen. Sie lüftete eine Ecke der
grauen Plastikschutzhaube über der Maschine. Manuell, nicht einmal elektrisch.
(Sie hatte befürchtet, einen Computer vorzufinden.) Sie gab dem Drehstuhl
dahinter versuchsweise einen Schubs.
    Guten Tag, würde sie sagen, ich
möchte fragen, ob...
    Nein, nicht fragen. Fragen war zu unentschlossen.
    Sie strich sich übers Haar, das
sich so bröselig wie der trockene Sand am Strand anfühlte. (Der Strand! Nein:
verscheuch den Gedanken.) Sie strich ihr Kleid über den Hüften glatt und schob
den Arm über die auffallende rosa Schleife, die ihre Strohtasche zierte.
    Es kommt mir wie ein Wink des Schicksals
vor, Mr. Pomfret, beinah wie ein Befehl von oben, daß ich gerade jetzt vom
Ableben der armen Miss Percy erfahre...
    Die Stimme hinter der Tür klang
energischer und lauter. Mr. Pomfret kam zum Ende seiner Unterhaltung.
    Als hätte der Zufall meinen Fall
unterbrochen, gibt das einen Sinn? Ich hin den ganzen, ganzen Tag gefallen, und
dann bin ich, wie zufällig, an einem Haken hängengeblieben, oder an einem
Felsvorsprung auf dem Weg in den Abgrund, und hier bin ich nun und möchte gern
wissen...
    Hörerauflegen,
Drehstuhlquietschen, schwere Schritte über den Teppich. Die vertäfelte Tür
schwang auf, und ein dickbauchiger Mann mittleren Alters im leichten
gestreiften Sommeranzug warf ihr über seine halbe Brille einen fragenden Blick
zu. »Ich hatte doch jemanden gehört«, sagte er.
    »Mr. Pomfret, ich bin Delia
Grinstead«, erklärte sie. »Ich bin Ihre neue Sekretärin.«
     
    * * *
     
    Um Viertel nach vier ging sie
noch einmal zum Billigladen und kaufte sich ein Baumwollnachthemd, weiß, und
zwei Paar Strumpfhosen. Um vier Uhr fünfundzwanzig überquerte sie den Platz,
betrat das Schuhgeschäft Bassett und Co. und kaufte sich eine große schwarze
Lederhandtasche. Die Tasche kostete fünfundsiebzig Dollar. Angesichts des
Preises hätte sie beinah statt dessen eine Kunstledertasche ausgesucht, aber
dann fand sie, für Miss Grinstead kam nur echtes Leder in Frage.
    Miss Grinstead, das war Delia —
die neue Delia; denn so hatte Mr. Pomfret sie während ihres Gesprächs genannt.
Es erschien ihr angemessen, diesen Kompromiß zu wählen, den Titel der
Unverheirateten, den Nachnamen der Verheirateten. Sicher war sie nicht mehr die
gutsituierte Mrs., aber zur jungen, albernen Miss Felson gab es ebenfalls kein
Zurück. Außerdem war ihre Sozialversicherungskarte auf den Namen Grinstead
ausgestellt. Sie hatte sie aus ihrer Brieftasche geholt und Mr. Pomfret die
Nummer vorgelesen (hatte sie in der Vergangenheit zu wenig benutzt, um die
Nummer auswendig zu können). Sie hatte ihm erzählt, sie sei nach dem Tod ihrer
Mutter in eine andere Stadt gezogen. Eine ganze Lebensgeschichte entfaltete
sich unausgesprochen zwischen ihnen: der umständliche Frauenhaushalt, die
Ergebenheit der Tochter. Sie erklärte, sie habe ihr halbes Leben in einer
Arztpraxis gearbeitet. »Zweiundzwanzig Jahre«, sagte sie Mr. Pomfret, »und ich
bin ungern gegangen, aber Baltimore mit all seinen Erinnerungen, da konnte ich
einfach nicht bleiben.« Sie redete sogar anders, seit sie Miss Grinstead war.
Sonst hätte sie niemals einen Begriff wie »einfach« benutzt, und ein Wort wie
»Erinnerungen« klang so geschwollen, eigentlich untypisch für sie.
    Hätte er nach ihren Zeugnissen
gefragt: sie hätte behauptet, ihr Arbeitgeber sei ebenfalls kürzlich
verstorben. (Heute brachte sie reihenweise Leute zur Strecke!) Aber Mr. Pomfret
wollte keine Zeugnisse sehen. Er interessierte sich nur für ihren früheren
Aufgabenbereich. Konnte sie Schreibmaschine schreiben, konnte sie Akten
ablegen, konnte sie stenografieren? Sie antwortete wahrheitsgemäß, aber es kam
ihr wie lügen vor. »Ich habe alle Rechnungen getippt und die Patientenkartei
geführt«, sagte sie. Sams angestrengtes Gesicht tauchte vor ihr auf, er trug
seinen geflickten Kittel und die Krawatte mit dem persischen Tüpfelmuster, die
er seine »Pantoffeltier-Krawatte«

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