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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Wirklichkeit noch ihr altes Leben wie
immer, und die Delia hier in Bay Borough war eine eigenartige Abspaltung der
eigentlichen Delia.
    Als sie die
Personenbeschreibung las, war sie verletzt. Mit blonden bis hellbraunen
Locken... blaue, graue, vielleicht auch grüne Augen... Um Himmels willen,
hatte kein Mensch in ihrer Familie sie je genau angesehen? Und lächerlich, wie
Sam ihre Kleidung beschrieben hatte, wie konnte er nur! Ein »Hängerkleidchen«,
na warte! Sie faltete die Zeitung geräuschvoll zu, warf wieder einen Blick in
ihre Nachbarschaft. Der kleine Junge war wütend, wandte und drehte sich ohne
viel Worte, stampfte mit dem Fuß auf, weil das Taubenfutter alle war. Der alte
Mann leckte einen Finger an und blätterte eine Seite um. Delia haßte das. Jeden
Mittag kam er mit einer Zeitschrift hierher, und bei jedem Umblättern leckte er
vorher den Zeigefinger. Delia hoffte nur, daß keiner nach ihm die Zeitung lesen
wollte.
    Wie jemand, der täglich mit der
Bahn zur Arbeit fuhr und immer auf dem gleichen Platz saß, wie ein Gast, der im
Wohnzimmer immer im selben Sessel sitzt, hatte Delia in nur drei Tagen
geschafft, eigene Gewohnheiten zu entwickeln. Frühstück mit der Morgenzeitung
bei Rick-Rack’s. Mittags am Platz — Joghurt und Obst, die sie vorher im
Lebensmittelladen gekauft hatte. Immer auf der südöstlichen Parkbank, immer mit
der Abendzeitung. Dann, ebenfalls in der Mittagspause, Einkäufe: Dienstag, ein
Paar flache schwarze Schuhe, weil sie von den Espadrilles an der Hacke Blasen
bekam. Mittwoch, eine verstellbare Leselampe. Heute wollte sie sich eigentlich
einen Tauchsieder kaufen, damit sie sich morgens als erstes eine Tasse Tee
kochen konnte. Aber jetzt, angesichts der Zeitungsmeldung, war sie unsicher.
Mit einemmal fühlte sie sich schutzlos. Sie wollte nur noch zurück ins Büro.
    Sie warf die Reste ihres
Mittagessens in den drahtgeflochtenen Papierkorb und begrub die Zeitung
darunter. Sonst ließ sie die Zeitung auf der Bank liegen, damit andere nach ihr
sie lesen konnten, aber nicht heute.
    Die Mutter versuchte, den
kleinen Jungen in den Sportwagen zu bugsieren. Das Kind weigerte sich, machte
sich starr und steif. Der alte Mann hatte seine Zeitschriftlektüre beendet und
legte umständlich seine Brille ins Etui. Keiner der drei gönnte Delia einen
Blick, als sie vorbeiging. Oder vielleicht taten sie nur so, selbst das Kind;
vielleicht hatten sie Order, sich ihr gegenüber unauffällig zu benehmen. Nein.
Sie gab sich einen Ruck. Reiß dich zusammen. Sie hatte doch kein Verbrechen
begangen. Sie beschloß, ihre Besorgungen zu machen — wie geplant in den
Billigladen zu gehen.
    Komisch, wie das Leben
Gegenstände um einen Menschen herum anschwemmte. Sie besaß schon eine
Leselampe, weil sie bei der Deckenbeleuchtung im Bett schlecht lesen konnte;
und auf der Ablage im Schrank standen ein Stapel Pappbecher und eine Schachtel
Teebeutel, bis jetzt hatte sie für ihren Tee heißes Wasser aus dem Hahn im Bad
benutzt; nun wurde deutlich, sie brauchte ein zweites Kleid. Gestern nacht, als
es zum erstenmal richtig sommerlich heiß war, hatte sie gedacht, Am besten
kaufe ich einen Ventilator. Dann hatte sie sich gebremst: Halt. Halt , keine überstürzten Käufe.
    Sie betrat das Kaufhaus und
hielt inne. Haushaltswaren vielleicht? Die alte Dame, die über Backpapier und
Töpfe wachte, stand untätig da und spielte mit ihrer Perlenkette; Delia ging
auf sie zu. »Führen Sie Tauchsieder?« fragte sie. »Die kleinen Geräte, mit
denen Wasser in der Tasse heiß gemacht wird?«
    »Ich weiß, was Sie meinen«,
sagte die alte Dame, »ich sehe ihn haarscharf vor mir. Elektrisch, stimmt’s?«
    »Genau«, sagte Delia.
    »Mein Enkel hat einen mit ins
College genommen, können Sie sich das vorstellen. Hat nicht die
Gebrauchsanleitung gelesen und damit statt Wasser Suppe heiß gemacht. Ein
Gestank, sag ich Ihnen. Er sagt, Sie können sich den Gestank gar nicht
vorstellen! Aber hier bei mir gibt’s keine. Vielleicht drüben bei Eisenwaren.«
    »Danke«, sagte Delia knapp und
machte kehrt.
    Natürlich gab es ihn bei Eisenwaren,
aufgereiht hing er zwischen Verlängerungsschnüren und dreipoligem Kabel. Sie
zahlte genau passend. Der Verkäufer — ein grauhaariger Mann mit Fliege —
blinzelte ihr zu, als er ihr das Päckchen überreichte. »Schönen Tag noch, junge
Dame«, sagte er. Er hielt das sicher für ein Kompliment. Delia machte keine
Anstalten zu lächeln.
    Sie hatte festgestellt, daß
Miss Grinstead nicht

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