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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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die
Schublade. Sie beantwortete den Anruf eines Mannes, der bedauerte, daß Mr.
Pomfret schon fort war, und es zu Hause versuchen wollte. Sie machte die
Kaffeemaschine sauber. Um Punkt fünf zog sie die Jalousien zu, griff Briefe und
Handtasche und verließ das Büro.
    Mr. Pomfret hatte ihr einen
eigenen Schlüssel für die Riffelglastür gegeben, und schon kannte sie seine
Tücken — nur mit einem kleinen Ruck ließ er sich im Schloß drehen.
    Draußen schien immer noch die
Sonne, und die Luft fühlte sich nach der Klimaanlage warm und schwer an. Delia
ging gemütlichen Schritts, ließ sich von anderen Fußgängern überholen — Männer
in korrekten Anzügen auf dem Weg nach Hause, eilige Frauen mit Plastiktüten vom
King-Supermarkt. Sie warf die Briefe in den Kasten an der Ecke, aber dann bog
sie nicht links ab, sondern ging in die Bücherei — ihre nächste Station auf der
neuen Alltagsgewohnheitsroute.
    Mittlerweile hatte sie den
Stadtgrundriß im Gefühl. Ein makelloses Raster mit dem Platz mathematisch genau
zwischen drei nördlichen und drei südlichen Straßen, zwei östlichen und zwei
westlichen. Blickte sie an der Kreuzung nach Westen, sah sie Weideland,
manchmal sogar eine Kuh. (Morgens beim Erwachen hörte Delia in der Ferne Hähne
krähen.) Die Gehwege waren holprig, und manchmal verdrängte Gras die
Pflastersteine; kam ein Baum, brach das Pflaster ganz ab. Weiter vom Platz
entfernt gingen die Straßen irgendwann in schäbigen Asphalt über, und Unkraut
stand in den Straßengräben wie auf Landstraßen.
    Die Bay-Borough-Bücherei lag in
der Border Street, an der nördlichen Stadtgrenze, zwischen einer Kirche und
einer Exxon-Tankstelle. Sie war kaum größer als ein Cottage, dennoch fühlte
Delia sich bei jedem Besuch ernst und wichtig. Es duftete überall nach altem
Papier und Klebstoff: über den vier Tischen mit den Holzstühlen, dem lackierten
hohen Pult der Bibliothekarin, den vollgepferchten Regalen mit Büchern älteren
Datums. Keine CDs oder Videos, keine Drehständer mit Taschenbüchern; nur
einfache solide Bücher, leinengebunden mit handgeschriebenen, weiß getuschten
Signaturen auf den Rücken. Delia vermutete, daß hier die Mittel knapp waren.
Seit mindestens zehn Jahren hatte sich hier nicht mehr viel getan. Nirgends ein
Bestseller, statt dessen reichlich Jane Austen und Edith Wharton, Biographien,
die sich wissenschaftlich gaben, und Geschichtsbücher. In der Kinderecke
glitzerten die zerfledderten Bilderbücher vor lauter Klebeband.
    Um halb sechs wurde
geschlossen, die Bibliothekarin räumte die letzten Bücher zurück. Delia legte
ohne viel Worte das gestern geliehene Buch auf den Tisch; heute konnte sie sich
unbeobachtet ein neues aussuchen, weil um diese Zeit wenig los war. Aber was?
Wieso gab es keine Liebesromane? Dickens oder Dostojewski schaffte sie nie an
einem Abend; sie hatte sich vorgenommen, jeden Abend ein Buch zu lesen. Eliot,
Faulkner, Fitzgerald...
    Sie suchte sich Der Große
Gatsby aus; ein vager Bekannter aus ihrer Schulzeit. Sie legte ihn auf den
hohen Tisch, und die Bibliothekarin (eine schokoladenbraune Frau um die Fünfzig)
unterbrach das Einräumen, um sie abzufertigen. »Oh, Gatsby!« sagte sie.
Delia antwortete nur »Hmm« und reichte ihr die Benutzerkarte.
    Auf der Karte stand ihre neue
Adresse: 14, George Street. Keine Telefonnummer. Nie zuvor war sie telefonisch
nicht erreichbar gewesen.
    Sie verstaute das Buch in der
Handtasche, verließ die Bücherei und ging wieder in die Stadt. Der
Secondhandladen, ›Der Billige Bügel‹, hatte umdekoriert, stellte sie fest.
Jetzt hing ein marineblaues Strickkleid neben einem muschelrosa Frack. War es
unter ihrer Würde, wenn sie ihr nächstes Kleid aus zweiter Hand kaufte? In
einer Stadt dieser Größe wußte sicher jeder, wer es vorher getragen hatte.
    Aber, war ihr das nicht egal?
Sie versuchte nicht zu vergessen, morgen in der Mittagspause das Kleid
anzuprobieren.
    Als sie rechts in die George
Street einbog, stieß sie auf die Mutter mit dem kleinen Jungen, der am Platz
die Tauben gefüttert hatte. Die Mutter lächelte sie an, und ohne lange
nachzudenken, lächelte Delia zurück. Gleich danach jedoch sah sie weg.
    Nächste Station war Rick-Rack’s
Café. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf das Haus, in dem sie jetzt
wohnte. Vorn parkte niemand, stellte sie erfreut fest. Mit etwas Glück blieb
Belle den ganzen Abend fort. Anscheinend hatte sie viel zu tun.
    Rick-Rack’s roch nach
Krabbenkuchen, doch wer sie

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