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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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einen Stuhl gegeben, hätte sie im
Sitzen gelesen, aber sie hatte keine Wahl. Sie überlegte, ob Mr. Lambs Zimmer
besser ausgestattet war. Wahrscheinlich konnte sie Belle nach einem Stuhl
fragen. Aber das hieß, ein Gespräch führen, und Gespräche mied Delia soweit wie
möglich. Um Himmels willen, gar nicht auszudenken, sie würden Busenfreundinnen,
hielten womöglich gemütliche Schwätzchen und erzählten jeden Abend, wie die
Arbeit war.
    Sie stopfte das Kissen gegen
das Gitter am Kopfende und lehnte sich zurück. Für den Anfang reichte das Licht
draußen noch zum Lesen — schräg einfallendes warmes Gold, das sie angenehm
träge machte. Im Haus gegenüber hörte sie ein Baby weinen. Eine Frau weit weg
rief: »Robbie! Kenny!« es klang wie eine Glocke, bimbam, wie Mütter überall,
die ihre Kinder heimriefen. Delia las weiter, das Blättern hatte etwas
Friedliches. Sie fand Gatsbys Geschichte interessant, aber hingerissen war sie
nicht. Ein guter abendlicher Zeitvertreib, mehr nicht.
    Es dämmerte, und sie knipste
die Leselampe an, die ihr von der Fensterbank über die Schulter schien. Jetzt
hatten die Kinder gegenüber zu Abend gegessen und spielten, riefen sich
lauthals etwas zu. Delia hörte sie eine Weile, vergaß sie allmählich, und als
sie ihr wieder einfielen, stellte sie fest, sie waren wohl schlafen gegangen.
Es war Nacht, und Motten stießen an das Fliegengitter vorm Fenster. Unten auf
der Straße schlug eine Autotür; Absätze klapperten über die Veranda; Belle
betrat das Haus, ging gleich ins Wohnzimmer, führte ein Telefongespräch.
»Wissen Sie, der Wiederverkaufswert ist enorm«, hörte Delia, bis sie wieder zu
lauschen vergaß. Später unterbrach sie einen Augenblick ihre Lektüre und hörte
nur Stille, drinnen und draußen, vom Verkehr auf der Schnellstraße abgesehen.
Es war jetzt kühler, und sie war dankbar für den kleinen warmen Lichtschein.
    Sie las das Buch zu Ende, doch
den letzten Satz las sie immer wieder, bis er vor ihren Augen verschwamm. Dann
legte sie das Buch zu Boden und knipste das Licht aus. Sie weinte im Dunkeln —
die letzte ihrer neuen täglichen Gewohnheiten.
    Sie weinte ohne den geringsten
Gedanken, große Schluchzer drangen aus ihrer Brust und verzerrten ihren Mund.
Alle paar Minuten putzte sie ihre Nase mit einem Stück Toilettenpapier, das sie
unters Kopfkissen steckte. Am Ende, als sie sich ausgedorrt fühlte, seufzte sie
tief und bebend, sagte laut: »Ach, na ja.« Dann putzte sie sich ein letztes Mal
die Nase, legte sich hin und schlief.
    Sie war überrascht, wie fest
sie immer schlief.
     
    * * *
     
    Der kleine Junge hätte am
liebsten, daß ihm die Tauben aus der Hand fraßen. Er hockte in ihrer Mitte, das
breite Hinterteil seiner Cordhose nur Zentimeter über dem Boden, und hielt
ihnen einen Brotwürfel entgegen. Doch die Tauben stolzierten mit scharfen,
ausweichenden Blicken herum, bis er begriff, daß sie nie näher kämen, und
plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, kippte er nach hinten und strampelte vor
Wut in die Luft. Delia lächelte, aber nur hinter der schützenden Zeitung.
    Heute wurde ihr Verschwinden
nicht mehr erwähnt. Sie überlegte, ob die zuständigen Stellen sie so schnell
vergessen hatten.
    Sie faltete den Lokalteil um
und legte ihn neben sich auf die Bank. Als sie links den Joghurtbecher nehmen
wollte, bemerkte sie die Frau, die sie aus einigen Metern Entfernung
beobachtete.
    Ihr Herz tat einen Satz. Sie
sagte: »Eliza?«
    Eliza kam hastig auf sie zu,
als hätte sie gerade einen Entschluß gefaßt.
    Niemand ging neben ihr. Niemand
ging hinter ihr.
    Niemand.
    Sie trug ein Kleid — ein
hellbraunes gutsitzendes Hemdblusenkleid, das sie bei Stewarts gekauft hatte,
einem Laden, den es in Baltimore schon lange nicht mehr gab. Eliza trug fast
nie Kleider. Nur bei besonderen Anlässen, dachte Delia, und dann dachte sie:
Ich bin der besondere Anlaß. Sie stand auf, immer noch den Joghurtbecher in der
Hand. »Hallo, Eliza«, sagte sie.
    »Hallo, Delia.«
    Da standen sie und sahen sich
unsicher an, Eliza, eine kantige Handtasche fest in beiden Händen, bis Delia
der alte Mann auf der anderen Bank einfiel. Er schien in seine Zeitschrift
vertieft, aber man konnte nie wissen. »Möchtest du vielleicht spazierengehen«,
fragte sie Eliza.
    »Also gut«, sagte Eliza steif.
    Wahrscheinlich war sie böse.
Natürlich war sie böse. Als Delia die Überreste ihrer Mittagsmahlzeit in den
Papierkorb warf, kam sie sich wie ein kleines Mädchen vor, das

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