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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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bestellt hatte, hatte schon gegessen und war weg.
Die kleine rothaarige Kellnerin füllte die Salzstreuer. Der Koch kratzte den
Bratrost ab. »Na, hallo«, sagte er, als Delia hereinkam.
    »Hallo«, sagte sie lächelnd.
(Gegen zuvorkommende Behandlung, solange sie nicht zu weit ging, hatte sie
nichts einzuwenden.) Sie setzte sich an ihren üblichen Tisch. Als die Kellnerin
kam, war sie schon in ihr Buch vertieft, und sie sagte nur: »Einmal Milch und
die Hühnerpastete, bitte.« Dann las sie weiter.
    Gestern abend hatte sie Suppe
und Vollkorntoast gegessen; den Abend davor Thunfischsalat. Sie hatte sich
vorgenommen, abends abwechselnd Suppe oder etwas Proteinreiches zu essen.
Billiges Protein. Die Krabbenpfannkuchen konnte sie sich höchstens leisten,
wenn sie ihren ersten Gehaltsscheck bekam.
    Die neuen Schuhe am Montag
hätte sie gern mit der Kreditkarte in ihrer Brieftasche bezahlt. Aber über die
Kreditkarte war sie leicht auffindbar! Und dann war ihr ein seltsamer Gedanke
gekommen. Überhaupt unauffindbar, hatte sie gedacht, wäre ich, wenn
ich sterbe.
    Aber natürlich hatte sie das
nicht so gemeint, wie es klang...
    Ihr Buch aus der Bücherei war
so groß gedruckt, sie fürchtete, diesmal reichte es nicht für den Abend. Sie versuchte,
die Augen langsamer über die Seiten wandern zu lassen, und als das Essen kam,
unterbrach sie ihre Lektüre. Sie ließ das Buch aber aufgeschlagen neben dem
Teller liegen, falls jemand an ihren Tisch kam.
    Die Kellnerin deckte fürs
Abendessen Papierplatzdeckchen mit Bogenrand auf die Tische. Der Koch rührte
etwas auf dem Gasbrenner. Zwei Falten zogen über seinen Nacken; seine glatte
schwarze Kopfhaut war wie gestickt mit lauter kleinen Haarknoten übersät.
Sicher hatte er die Hühnerpastete selbst gebacken, dachte Delia. Die Kruste
zerknackte unter ihrer Gabel. Und der Kartoffelbrei dazu schien auch frisch,
kein Tütenmatsch.
    Sie überlegte, ob sie zu Hause
daran gedacht hatten, die vorgekochten Gerichte aufzutauen, die sie eingepackt
hatte.
    »Wenn er auftaucht«, sagte der
Koch gerade zur Kellnerin, »sieh zu, was du mit ihm machst. Ich jedenfalls mach
nix.«
    »Bißchen mußt du aber doch mal
da sein«, sagte die Kellnerin.
    »Sag ja nicht, ich bin nicht
da. Sag, ich mach nix mit ihm.«
    Die Kellnerin sah Delia an, bevor
Delia wegsehen konnte. Sie hatte Augen, fast hahnenfußgelb, wie häufig
Rothaarige, und ein rundes, unschuldiges Gesicht. »Mein Dad will uns besuchen«,
erklärte sie Delia.
    »Aha«, sagte Delia und griff
nach ihrem Buch.
    »Er war nicht so begeistert,
als ich und Rick hier geheiratet haben.«
    Die Kellnerin und der Koch
waren verheiratet? Delia befürchtete, wenn sie jetzt zu lesen begann, fanden
sie womöglich, sie wäre auch dagegen; also steckte sie einen Finger zwischen
die Seiten und sagte: »Er wird es sicher irgendwann akzeptieren.«
    »Oh, hat er längst! Sagt er
wenigstens. Rick braucht ihn aber bloß zu sehen, prompt fällt ihm ein, wie
gemein Daddy mal war.«
    »Mit dem Mann kann ich nix
anfangen«, sagte Rick bedauernd.
    »Daddy kommt ins Zimmer und,
peng! Rick schnappt ein und kriegt den Mund nicht mehr auf.«
    »Dann legt Teensy los und redet
wie’n Wasserfall, lauter dummes Zeug.«
    Delia kannte das zu gut. Als
ihre Schwester Linda den Franzosen heiratete, den ihr Vater nicht ausstehen
konnte...
    Doch das konnte sie keinem
erzählen. Sie saß allein an diesem Tisch, unendlich allein, ohne Vater,
Schwestern, Mann, Kinder als Gesprächsstoff. Sie war eine Person ohne
Vergangenheit. Sie holte Luft, wollte etwas sagen, wußte nicht, was. Es war
Teensy, die schließlich das Schweigen brach. »Na ja«, sagte Teensy, »wenigstens
sind’s noch ein paar Tage, daß wir uns dran gewöhnen können.« Und dann ging
sie, bediente ein Paar, das inzwischen gekommen war.
    Als Delia aus dem Café trat,
fand sie die Luft leichter als gewöhnlich, dünner, transparenter — und
überquerte beschwingt die Straße. Innen hinter Belles Haustür fand sie eine
Ansammlung von Briefen unter dem Postschlitz, doch sie hob nichts auf, sah
nicht einmal nach, für wen die Briefe waren; sie wußte mit absoluter
Sicherheit, für sie war keiner dabei.
    Oben vollzog sie ihr
allabendliches Ritual: verstaute ihre Sachen, duschte, wusch ihre Wäsche.
Währenddessen lauschte sie, ob Belle zurückkam, denn wenn jemand im Haus war,
wäre sie noch leiser. Doch sie spürte, sie hatte das Haus für sich.
    Als zuletzt alles fertig war,
stieg sie mit ihrem Buch ins Bett. Hätte es

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