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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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wirkt es ein bißchen karg, aber — «
    »Delia, heißt das, du hast vor,
hier zu wohnen?«
    »Ich wohne hier!«
    »Aber... für immer?«
    »Ja, warum nicht?« sagte Delia.
    Sie spürte, daß sie wieder
schlucken mußte, doch das verdrängte sie. »Setz dich«, forderte sie Eliza auf.
»Möchtest du einen Tee?«
    »Oh, ich... nein, danke.« Eliza
drückte ihre Handtasche noch fester an sich. Sie wirkte in dieser Umgebung fehl
am Platz — jemand von zu Hause, so dürftig und farblos, wie Leute von zu Hause
immer wirken. »Daß ich dich richtig verstehe«, sagte sie.
    »Ich kann im Handumdrehen
heißes Wasser machen. Setz dich doch aufs Bett.«
    »Willst du damit sagen, daß du
uns für immer verläßt«, sagte Eliza und rührte sich nicht. »Du hast vor, weiter
in Bay Borough zu bleiben. Du verläßt deinen Ehemann, und du verläßt deine drei
Kinder, von denen eins noch auf der High-School ist.«
    »Auf der High-School, ja, und
fünfzehn Jahre alt, und blendend in der Lage, ohne mich klarzukommen«, sagte
Delia. Zu ihrem Entsetzen füllten sich ihre Augen mit heißen Tränen. »Besser
als mit mir, jedenfalls«, fuhr sie festentschlossen fort. »Übrigens, wie geht’s
den Kindern?«
    »Sie sind ziemlich
durcheinander; was erwartest du?« antwortete Eliza.
    »Aber geht es ihnen sonst gut?«
    »Kümmert dich das?«
    »Natürlich kümmert mich das!«
    Eliza machte einen Schritt
rückwärts. Delia dachte, sie lenkte jetzt ein und setzte sich, aber, nein, sie
ging ans Vorderfenster und schaute hinaus. »Sam, wie du dir denken kannst, ist
wie vom Schlag getroffen«, verkündete sie mit dem Rücken zu Delia.
    »Tja, jetzt denkt er sicher,
hätte er statt Tochter Eins doch Tochter Zwei genommen«, sagte Delia.
    Eliza wirbelte herum. Sie
sagte: »Delia, was ist los mit dir? Hast du völlig den Verstand verloren? Dein
fabelhafter vorbildlicher Ehemann läuft zu Hause wie ein Schatten seiner selbst
herum, deine Kinder begreifen gar nichts, deine Nachbarn zerreißen sich den
Mund, und im Fernsehen und in den Zeitungen werden unsere Namen durch ganz
Maryland posaunt — «
    »Es war im Fernsehen?«
    »In jedem Programm von
Baltimore! Sie haben ein großes Farbfoto von dir gebracht: Wer hat diese Frau
gesehen?«
    »Welches Foto haben sie
genommen?« fragte Delia.
    »Das von Lindas Hochzeit.«
    »Das ist doch Jahre her!«
    »Du warst meistens diejenige,
die fotografiert hat. Wir hatten nicht viel Auswahl.«
    »Aber das gräßliche
Brautjungferkleid! Mit diesen Schultern, als hätte ich den Bügel verschluckt!«
    »Delia«, sagte Eliza, »seit Mr.
Sudlers Anruf versuche ich mir zu erklären, wieso du einfach auf und davon
gegangen bist. Bis jetzt fand ich immer, du hast es so leicht gehabt. Die
Jüngste in der Familie. Unsere Süße. Miss Beliebtheit in der High-School.
Vaters Lieblingstochter. Stimmt, du bist ohne Mutter groß geworden, aber du
schienst es gar nicht zu registrieren. Gut, du warst erst vier, als sie starb,
und sie war immer bettlägerig, als du klein warst. Aber eigentlich finde ich,
vier Jahre ist alt genug! Natürlich hast du es registriert! Schließlich hast du
Nachmittage lang in ihrem Zimmer gespielt, du meine Güte!«
    »Ich erinnere mich an nichts«,
sagte Delia.
    »Doch, du mußt dich erinnern. Ihr
beiden hattet diese Ausschneidepuppen. Du hattest sie in einen Schuhkarton
unten in ihren Wandschrank gepackt und jeden Nachmittag — «
    »Ich kann mich überhaupt nicht
erinnern!« sagte Delia. »Wieso reitest du darauf herum? Ich erinnere mich
überhaupt nicht an sie!«
    »Und Vaters Lieblingstochter zu
sein war sicher kein reines Vergnügen. Er hat dir ausgeredet, aufs College zu
gehen, fand selbstverständlich, daß du in der Praxis arbeitest... kein Wunder,
daß du dagegen etwas hast.«
    »Ich habe nichts dagegen!«
sagte Delia.
    »Und dann sein Tod; natürlich
hat sein Tod dich stärker getroffen als — «
    »Ich weiß überhaupt nicht,
warum du damit jetzt ankommst!« rief Delia.
    »Noch einen Satz, bitte. Dee,
du weißt, ich glaube daran, daß Menschen viele Leben haben.«
    Sonst hätte Delia gestöhnt.
Jetzt jedoch war sie froh, daß das Gespräch eine andere Wendung nahm.
    »Jedes Leben erfüllt einen
gewissen Auftrag, glaube ich«, erklärte Eliza. »Du kriegst jedesmal auf Erden
eine Aufgabe zugeteilt, eine begrenzte Erfahrung, die du dir erarbeiten mußt.
Selbst wenn dein Leben verworren ist, glaube ich, damit sollst du dich in
diesem speziellen Durchgang beschäftigen.«
    »Woher weißt du, daß

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