Kleine Abschiede
doch sie hätte nur den Abschied
verlängert. Sie hatte ihre Handtasche oben gelassen und stand mit gekreuzten
Armen auf der Veranda, ihre Haltung besagte: sie wollte wieder hineingehen.
»Bestimmt seid ihr zurechtgekommen«, sagte sie Eliza. »Aber das meine ich
nicht. Ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich nicht bei Null anfange.
Anfänge... ich weiß nicht. Ganz unten.«
»Ganz unten?«
»Wie die Obdachlosen oder so.
Ich weiß nicht«, sagte Delia, »ich weiß nicht, was ich meine!«
Eliza beugte sich vor und
drückte ihre Wange gegen Delias Wange. »Es wird schon werden«, sagte sie. »Ein
bißchen Ruhe wirkt manchmal Wunder, glaub mir. Und inzwischen, Dee — « Sie
wollte sich umdrehen, doch dann fiel ihr noch etwas ein. »Vergiß nicht, Onkel
Roscoe’s Wahlspruch.«
»Wie hieß der?«
»Mach nichts fest, was du nicht
lösen kannst.«
»Ich werde dran denken«, sagte Delia.
»Onkel Roscoe war zwar ein
Miesepeter«, sagte Eliza, »aber ab und zu war er ganz vernünftig.«
Delia sagte: »Fahr vorsichtig.«
Sie stand da und sah Eliza nach
— der kleinen, ökonomischen, energischen Gestalt — , bis sie auf dem Gehweg
außer Sicht war. Dann kehrte sie ins Haus zurück und holte ihre Handtasche.
Als sie die Treppe hinaufging,
dachte sie, Aber wenn du nie etwas festmachst , was du nicht lösen
kannst ... Sie legte eine Hand auf das rauhe Holz des Geländers, dann tust du
am Ende überhaupt nichts. Sie war versucht, sich auf dem Absatz umzudrehen und
Eliza hinterherzulaufen, um es ihr mitzuteilen, doch einen zweiten Abschied
hätte sie nicht ertragen.
8 Ihr Buch an jenem Abend war Fiesta, aber sie schaffte nicht, es durchzulesen, weil sie abgelenkt wurde. Es war
Freitag, das Wochenende hatte begonnen. Unter ihrem Fenster klang der Verkehr
lebhafter, Feierabend, und die Stimmen der Passanten waren lauter. »Huu-HII!
Jetzt kommen wir!« rief ein Jugendlicher. Einen Augenblick verlor Delia beim
Lesen den Faden. Gegen acht ging jemand über die Veranda — nicht Belle, sondern
jemand in flachen Schuhen, langsam, müde oder traurig — und sie ließ ihr Buch
sinken und horchte. Die Haustür öffnete sich, jemand trat ein, die Treppe nach
oben knarrte Stufe für Stufe. Dann klapperte auf der anderen Flurseite die
Türklinke, und sie dachte: Oh. Der andere Mieter.
Sie kehrte zu ihrem Buch
zurück, doch ab und zu unterbrach ein Geräusch ihre Konzentration — ein hohles
Husten, das Klimpern der Drahtkleiderbügel auf der Stange im Wandschrank
nebenan. Als sie in der Dusche das Wasser laufen hörte, erhob sie sich und ging
auf Zehenspitzen zur Tür, prüfte, ob sie verschlossen war. Dann stieg sie
wieder ins Bett und las, was sie gerade gelesen hatte, noch einmal.
Etwa eine Stunde später kam
Belle. Sie brachte einen Mann mit. Delia hörte ihn herzhaft und dröhnend lachen
— kein Lachen, das ihr bekannt vorkam. »Mach keine Witze!« sagte Belle einmal.
Der Fernseher wurde unten eingeschaltet, und die Eisschranktür schlug mit
dumpfem Knall zu.
* * *
Mr. Lamb entpuppte sich als
hagerer Mann um die Vierzig, mit stumpf braunem Haar, vorstehenden Zähnen und
tiefliegenden Augen. Delia traf ihn oben im Flur, als sie am nächsten Morgen
ihre Besorgungen machen wollte. »Hallo«, sagte sie im Vorbeigehen, denn sie
hatte im voraus beschlossen, ihren Kontakt so gering wie möglich zu halten.
Aber ihre Befürchtungen waren überflüssig. Mr. Lamb drückte sich flach gegen
die Wand, belächelte kläglich seine Schuhe und murmelte etwas Unverständliches.
Sicher war er genausowenig begeistert, daß er das Badezimmer nicht für sich
hatte.
Sie suchte eine Bank, die
samstags geöffnet hatte. Sie wollte ihren Gehaltsscheck vom Freitag einlösen.
Der Scheck lautete auf die First Farmers’ Bank, deren Gebäude am Platz lag,
doch die war geschlossen, deshalb ging sie zur Bay Borough First Federal Bank.
Der Tag war kühl und windig, dunkle Wolken standen am Himmel, und die Luft
schien fast lila; und dieser Teil der Stadt, den sie seit dem Nachmittag ihrer
Ankunft nicht mehr aufgesucht hatte, wirkte jetzt völlig anders auf sie.
Irgendwie altmodisch. Die Gebäude waren so ausgeblichen, sie wirkten nicht
farbig, sondern handkoloriert, wie alte Fotografien.
»Könnte ich den bei Ihnen
einlösen?« fragte sie die Kassiererin am Schalter der Bay Borough Federal Bank.
Die Kassiererin — eine Frau mit einer straßbesetzten Schmetterlingsbrille —
warf kaum einen Blick auf die Unterschrift, bevor sie
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