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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Gefühl, als risse in ihrer
Brust eine riesige, rauhe Wunde auf.
    Als sie aufwachte, war ihr
Gesicht naß. Sie hatte gedacht, sie weinte nachts nicht mehr soviel, doch ihre
Augen waren voller Tränen, und so schluchzte sie herzzerreißend. Das Bild von
Ramsay in seinen kleinen braunen Sandalen, deren Existenz sie völlig vergessen
hatte, verfolgte sie. Sie sah ihre Kinder auf dem Rasen aufgereiht, als sie
jünger waren, noch nicht so widerborstig und ruppig; die Jungen mußten sich
noch nicht rasieren, und Susie hatte sich noch nicht das Tagebuch mit dem
soliden Messingschloß gekauft. Das waren die Kinder, nach denen sie sich
sehnte.
     
    * * *
     
    Eines Abends im September fand
sie nach der Arbeit mehrere Briefe auf dem Flurfußboden, die ihren Namen
trugen. Sie wußte, es waren Geburtstagskarten, denn morgen wurde sie
einundvierzig — und sie kamen von ihrer Familie, weil die Adressen alle
umständlich waren (Haus m/ niedriger Veranda...) Auf der ersten Karte
war eine Schubkarre voll Gänseblümchen. Darunter geburtstagswunsch, und drinnen Freundschaft und Glück,
Gute Laune immerdar/ jetzt und auch im nächsten Jahr. Unterschrieben
einfach: Ramsay, wobei der Bogen des Y sich halbherzig über die Seite
schlängelte.
    Sie trug die restliche Post
nach oben. Dem wollte sie sich nicht in aller Öffentlichkeit stellen.
    Susie, stand unter der nächsten
Karte. (Viele herzlichste Glückwünsche.) Und gar nichts von Carroll,
obwohl sie zweimal alle Umschläge untersuchte. Nun gut, sie konnte sich
vorstellen, was geschehen war. Die Karten waren Elizas Idee. Sie hatte die
ganze Familie dazu überredet. »Tut mir den einen Gefallen«, hatte sie sicher
gesagt. Oder: »Wer Geburtstag hat, soll wenigstens eine Karte bekommen...« Aber
Carroll, der Dickkopf, hatte sich glatt geweigert. Und Sam? Delia öffnete
seinen Brief. Ein Farbfoto mit Rosen in einer blauweißen Vase. Viel Glück und
viel Segen... unterschrieben, Sam.
    Dann ein Brief von Linda aus
Michigan. Du sollst wissen, daß ich Dir wirklich alles Gute zum Geburtstag
wünsche, schrieb sie. Ich trage Dir nicht nach, daß Du einfach
durchgebrannt bist, auch wenn es für uns hieß, daß wir unsere Ferien abbrechen
mußten — für die Zwillinge die einzige Gelegenheit im Jahr zu lernen, woher sie
stammen. Aber nichts desto trotz, einen schönen Tag. Unter ihrer
Unterschrift waren die von Marie-Claire und Thérèse — die eine: aufrecht und
wie gestochen, eine Wirrwarr-Linkshänderschrift die andere.
    Liebe Delia, schrieb Eliza auf
einer weiteren Karte, die auch vorn ein Vers zierte,
     
    Es geht uns allen gut, aber wir
hoffen, Du kommst bald nach Hause. Ich kümmere mich zur Zeit um die
Büroarbeiten in der Praxis, und alle drei Kinder gehen wieder in die Schule.
    Bootsy Fisher hat mehrmals
angerufen und auch mehrere von unseren Nachbarn, aber ich erzähle allen, du
besuchtest zur Zeit Verwandte.
    Ich hoffe, Du hast einen
schönen Geburtstag. Ich erinnere mich an die Nacht, in der Du geboren wurdest,
wie an letzte Woche. Daddy hatte uns erlaubt, mit den anderen Vätern im
Wartezimmer zu warten, und als die Krankenschwester kam, sagte sie: »Herzlichen
Glückwunsch, ihr beiden, ihr könnt jetzt ein Gesangstrio gründen und bei Arthur
Godfrey im Radio auftreten«, da wußten wir, daß Du ein Mädchen bist. Ich
vermisse Dich. Alles Liebe,
    Eliza
     
    Delia beschloß, diese Karte zu
verwahren. Die anderen warf sie weg. Dann entschied sie, Elizas Karte auch
wegzuwerfen. Dann saß sie lange auf ihrem Bett, preßte die Fingerspitzen gegen
ihren Mund.
     
    * * *
     
    An ihrem eigentlichen
Geburtstag kam ein Päckchen von Sams Mutter. Es hatte ungefähr Buchformat, zu
dick für den Briefschlitz, so daß es hinter der Fliegengittertür stand, wo Delia
es nach der Arbeit fand. Sie stöhnte, als sie die Handschrift erkannte. Eleanor
war bekannt für ihre ausgesprochen praktischen Geschenke — ein Reisemetermaß
mit Zentimetern und Inches, zum Beispiel, oder ein Aufladegerät für Batterien,
immer in gebrauchtes Weihnachtspapier gewickelt. Diesmal, so stellte Delia beim
Auspacken oben in ihrem Zimmer fest, war es eine winzige Leselampe, die sie um
den Hals hängen konnte. Also, eigentlich... fand sie. Wahrscheinlich war sie
effektiver als die Lampe, die sie sich gekauft hatte. Sie schob sie unter ihr
Kopfkissen, neben den Klopapiervorrat.
    Ein Brief lag auch dabei,
geschrieben auf Eleanors einfachem gelblichen Briefpapier.
     
    Liebe Delia,
    Ich schicke Dir nur eine
Kleinigkeit,

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