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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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die Du vielleicht nützlich findest. Auf meinen wenigen Reisen war
das Licht zum Lesen meist miserabel. Vielleicht machst Du die gleiche
Erfahrung. Wenn nicht, spende die Lampe dem nächsten Wohltätigkeitsverein. (Mit
dem Roten Kreuz bin ich in letzter Zeit nicht mehr zufrieden, aber die Grauen
Panther finde ich immer noch in Ordnung.)
    Mit den besten
Geburtstagswünschen,
    alles Liebe, Eleanor
     
    Delia drehte den Brief um, aber
unten auf der Rückseite stand nur umweltpapier
umweltpapier umweltpapier. Keine Entrüstung, kein einziger Vorwurf.
    Sie erinnerte sich, wie sie,
damals als sie mit Sam verlobt war, so große Hoffnungen auf Eleanor gesetzt
hatte. Sie hatte gedacht, endlich bekäme sie eine richtige Mutter. Aber das
war, bevor sie Eleanor kennenlernte. Dann kam sie eines Abends zum Essen zu den
Felsons, direkt aus dem Mädchenerziehungsheim, wo sie zweimal die Woche
ehrenamtlich Schreibmaschinenunterricht gab. Nach der allgemeinen Begrüßung
gönnte sie Delia kaum noch einen Blick. Statt dessen redete sie nur noch über
die, ach, so schreckliche Armut dieser Mädchen und den überwältigenden Luxus
unseres Abendessens — das genaugenommen aus einem Schweinerollbraten mit
Tütenzwiebelsoße und Eisbergsalat bestand. »Frage ich doch dieses arme
Geschöpf«, sagte Eleanor, »mein Kind, kann dir deine Familie eine
Schreibmaschine kaufen, damit du auch zu Hause arbeiten kannst, wenn du das
Baby hast? Und wißt ihr, was sie antwortet: ›Miss, meine Familie ist so arm,
wir können uns nicht mal Haarwaschmittel leisten.‹« Jemand reichte Eleanor den
Brotkorb. Eleanor betrachtete ihn verwirrt und reichte ihn weiter. »Ich habe
keine Ahnung, wieso gerade Haarwaschmittel«, sagte sie.
    (Warum kamen ihr gegenwärtig so
viele Stimmen in den Sinn? Manchmal, beim Einschlafen, klang es wie Geschwätz,
als säßen alle, die sie kannten, um sie herum und unterhielten sich. Wie
Besucher in einem Krankenzimmer. Menschen um ein Totenbett.)
    Einmal hatte Eleanor ihr ein
kleines elektrisches Reisebügeleisen geschenkt. Das war schon ein paar Jahre
her; Delia wußte nicht mehr, was sie damit gemacht hatte. Hier in Bay Borough
hätte sie es gut gebrauchen können. Sie hätte ihre Bürokleider auffrischen
können, die beide vom wiederholten Waschen ein bißchen ausgebeult waren. Sie
hätte jetzt kein Bügeleisen und Bügelbrett kaufen müssen. Oh, warum hatte sie
es damals nicht aufgehoben? Warum hatte sie es nicht mitgenommen? Warum war sie
so intolerant und undankbar gewesen?
     
    * * *
     
    Die Geburtstagskarten
beantwortete sie nicht, aber die Höflichkeit verlangte, daß sie sich bei
Eleanor bedankte. Die kleine Lampe ist ausgesprochen nützlich, schrieb sie.
Viel besser als die Leselampe, die ich bis jetzt benutzt habe. Die habe ich
jetzt auf die Kommode gestellt, damit ich die Deckenbeleuchtung nicht mehr
anknipsen muß. Das Zimmer ist so viel gemütlicher. In diesem Stil schrieb sie
eine ganze schmucklose Postkarte voll, ohne eigentlich irgend etwas
Wesentliches zu sagen.
    An nächsten Morgen, als sie die
Karte in den Briefkasten warf, fiel ihr plötzlich ein, daß Eleanor früher auch
im Büro gearbeitet hatte. Sie hatte als Sekretärin in einer High-School
gearbeitet und so das College ihres Sohns finanziert — keine geringe Leistung,
wie Delia jetzt nachempfinden konnte. Schade, daß sie auf der Karte nichts über
ihre Arbeit geschrieben hatte. Aber vielleicht hatte Eliza etwas erzählt.
»Delia hat eine Stelle bei einem Rechtsanwalt«, hatte Eliza womöglich gesagt.
»Sie erledigt sämtliche Büroarbeiten für ihn. Ihr solltet sie jetzt mal sehen;
ihr würdet sie nicht wiedererkennen, wenn sie euch über den Weg liefe.«
    »Tatsächlich?« würde Sam
fragen. (Irgendwie hatte sich ihr Gegenüber von Eleanor in Sam verwandelt.)
»Erledigt alles, sagst du? Verlegt keine wichtigen Akten mehr? Hockt nicht mehr
im Wartezimmer und liest ihre Kitschromane?«
    Naja, sie hatte mehr als ihr halbes
Leben damit verbracht, Sam zu imponieren. Unwahrscheinlich, daß sich so eine
Gewohnheit über Nacht in Luft auflöste.
     
    * * *
     
    Der Oktober kam, und es wurde
kühler. Auf dem Platz häufte sich gelbes Laub. In manchen Nächten mußte Delia das
Fenster schließen. Sie kaufte sich ein Flanellnachthemd und zwei Kleider mit
langen Ärmeln — ein graues mit Nadelstreifen und ein tannengrünes — und begann
im Secondhandladen nach einem guten Mantel Ausschau zu halten. Für einen Mantel
war es noch nicht kalt genug, doch sie

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