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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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wollte für jedes Wetter gewappnet sein.
    An Regentagen aß sie jetzt ihr
Mittagessen im Billard & Cola auf der Bay Street. Sie bestellte Kaffee
und ein Sandwich und beobachtete die Spieler am einzigen Billardtisch. Oft kam
auch Vanessa mit dem Buggy und leistete ihr Gesellschaft. Während Greggie wie
ein bunter Brummkreisel zwischen den Stuhlbeinen kullerte, klärte Vanessa Delia
auf, wer die Spieler waren. »Siehst du den Typen, der jetzt dran ist? Buck
Baxter. Ist so vor acht, neun Jahren hierhergezogen. Baxter von Baxters Wach-
und Schließgesellschaft, aber angeblich hat sein Vater ihn enterbt. Nein,
Greggie, der Mann möchte keinen Keks. Also, die da kenn’ ich nicht.« Sie meinte
die winzige, dunkelhaarige junge Frau, die sich auf die Zehenspitzen reckte und
über den Billardtisch lehnte, um ihr Spiel zu machen, ihre lila Segeltuchtasche
immer noch über der Schulter. »Die ist nicht von hier. Laß ihn in Ruhe,
Greggie. Und der Typ mit den Cowboystiefeln, das ist Belles Ex, Norton Grove.
Belle hatte den Verstand verloren, als sie sich in den verknallte. Der ist so
windig, da brauchste ‘ne Sturmwarnung.«
    Delia gewann den Eindruck, daß
Bay Borough eine Stadt für Versager war. Fast jeder hier war irgendwann mal
irgendwo weggelaufen oder weggejagt worden. Und eigentlich schien es nicht mehr
so idyllisch. Rick und Teensy Rackley wurden von manchen älteren Bürgern
naserümpfend links liegengelassen; die beiden einzigen Homosexuellen, ihres
Wissens, gingen offensichtlich immer allein durch die Stadt; in der High-School
sollte es schwere Drogenprobleme geben; und Mr. Pomfrets Terminkalender war
vollgestopft mit Leuten, die sich ihren Besitz streitig machten oder in
alkoholisiertem Zustand Auto gefahren waren.
    Dennoch, hier fühlte sie sich
wohl. Sie hatte ihre friedliche Routine, ihre Nische im allgemeinen Hin und
Her. Sie ging von der Kanzlei in die Bücherei, von der Bücherei ins Café und
erfuhr, wie ihre äußere Existenz ihren inneren Zustand bestimmte, so als
stellte sie sich, um den Schlaf wirklich herbeizulocken, vorsorglich schlafend.
Nicht, daß ihre Traurigkeit vergangen war, aber an der Oberfläche, ein gutes
Stück über dieser Traurigkeit, funktionierte sie leicht und reibungslos. Jeden
Samstag löste sie ihren Scheck ein; jeden Sonntag aß sie im Bay-Arms-Restaurant
zu Mittag. Manche Leute nickten, wenn sie ihr begegneten, was soviel hieß wie: Ach
ja, Miss Grinstead, wie erwartet.
    Dennoch gab es Dinge, die ihr
plötzlich einen Stich versetzten. Ein Lied, das sie aus Ramsays ›Grateful
Dead‹-Zeit kannte, knock-knock-knocking on heaven’s door. Oder die Mutter und
das kleine Mädchen, die sich vor dem Haus gegenüber umarmten. »Sie verläßt
mich!« rief die Mutter in gespielter Verzweiflung zu Delia hinüber. »Sie bleibt
das erstemal über Nacht weg!«
    Vielleicht konnte Delia sich
einreden, sie sei in die Zeit vor ihrer Ehe zurückversetzt und vermisse ihre
Kinder überhaupt nicht, weil sie noch gar nicht auf der Welt waren.
    Doch rückblickend schien es
ihr, sie habe sie sogar damals schon vermißt. War es möglich, daß es eine Zeit
gegeben hatte, in der es ihre Kinder noch nicht gab?
     
    * * *
    Liehe Delia, schrieb Eleanor.
(Diesmal lautete die Adresse George Street 14.)
     
    Ich habe mich so über Deine
Postkarte gefreut. Gut zu wissen, daß mein kleines Geschenk für Dich praktisch
ist, und ich bin froh, daß Du viel liest.
    Ich kann unmöglich einschlafen,
wenn ich nicht vorher ein paar Seiten gelesen habe, am liebsten etwas
Lehrreiches wie Biographien oder Zeitgeschichtliches. Eine Weile, nachdem Sams
Vater gestorben war, habe ich im Lexikon gelesen. Kein anderes Buch hatte so
kleine Abschnitte, auf die ich mich gerade noch konzentrieren konnte. Außerdem
hatten die Informationen etwas Endgültiges.
    Wahrscheinlich ist Sam davon
geprägt, daß sein Vater starb, als er noch so klein war. Das wollte ich
eigentlich schon in meinem letzten Brief sagen. Und sein Vater war keine
besonders starke Persönlichkeit. Er war die Sorte Mann, die das ganze
Badewasser ablaufen lassen, bevor sie aus der Wanne steigen. Vielleicht macht
es einem Jungen angst, daß er als Erwachsener auch so werden könnte.
    Ich hoffe, ich bin Dir nicht zu
nahe getreten.
    Alles Liebe, Eleanor
     
    Delia wußte nicht, was sie
davon halten sollte. Als der nächste Brief kam, zwei Wochen später, verstand
sie es besser. Bitte entschuldige, wenn ich sehr »schwiegermütterlich« klang
und Du deshalb meinen Brief

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