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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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nicht beantwortet hast. Ich hatte nicht vor, meinen
Sohn zu entschuldigen. Ich habe immer gesagt, er war schon vierzig, als er auf
die Welt kam, und ich weiß, mit so jemandem ist das Zusammenleben nicht
einfach.
    Delia kaufte noch eine
Postkarte — diesmal eine mit Bild, ein makellos weißes Rechteck, betitelt: Bay
Day in Bay Borough, also brauchte sie noch weniger zu schreiben. Liebe
Eleanor, schrieb sie. Ich bin eigentlich nicht wegen Sam hier. Ich bin
hier, weil
    Dann lehnte sie sich zurück,
wußte nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Sie wollte noch einmal anfangen,
aber die Postkarte hatte Geld gekostet, also entschloß sie sich,
weiterzuschreiben: ich bin hier, weil mir der Gedanke gefällt, noch einmal
von vorne anzufangen. Sie unterschrieb, Alles Liebe, Delia, und warf sie am
nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit in den Briefkasten.
    War das letztlich nicht der
wahre Grund? Wahrer, als ihr beim Schreiben bewußt gewesen war. Ihr Weggehen
hatte sehr wenig mit irgendeiner speziellen Person zu tun.
    Sie schloß die Tür zur Kanzlei
auf und bemerkte, wie sehr sie den leeren Raum genoß. Sie zog die weißen
Jalousien hoch; sie blätterte den Kalender auf eine neue Seite; sie setzte sich
und spannte einen weißen Bogen in die Schreibmaschine. Soweit sie ihren
bisherigen Morgen betrachtete, war daran ganz und gar nichts auszusetzen
gewesen.
     
    * * *
     
    Mr. Pomfret beschäftigte
manchmal einen Detektiv namens Pete Murphy. Es war kein Pokerface, wie Delia sich
einen Detektiv vorstellte, sondern ein dickliches Kindergesicht aus Easton.
Anscheinend wurde er seltener gebraucht, Leute ausfindig zu machen, als nicht
ausfindig zu machen. Wann immer ein Testament oder ein Rechtsanspruch in Frage
stand, kam Pete angeschlurft, pfiff tonlos zischend vor sich hin, winkte mit
seinen Stummelfingern wackelnd in Delias Richtung und begab sich ins
eigentliche Büro. Er sprach sie nie an und wußte wahrscheinlich nicht einmal,
wie sie hieß.
    Aber eines Regentags tauchte er
auf, unter seiner Windjacke offensichtlich etwas Rundes, Wehriges versteckt.
»Hab’ ein Geschenk für Sie«, sagte er zu Delia.
    »Für mich?«
    »Auf der Straße gefunden.«
    Er zog den Reißverschluß auf,
und eine kleine, feuchte, grauschwarze Katze sprang zu Boden, flitzte unter den
Heizkörper. »Oh!« sagte Delia.
    Pete sagte: »Los, komm her, du
kleiner Teufel.«
    Unter dem Heizkörper —
Mucksmäuschenstille.
    »Sie kommt nie, wenn Sie
kommandieren«, sagte Delia. »Sie müssen ein bißchen zurückgehen. Drehen Sie Ihr
Gesicht zur Seite. Tun Sie, als sähen Sie nicht hin.«
    »Na, das überlasse ich lieber
Ihnen«, beschloß Pete. Er wischte sich die Katzenhaare von den Ärmeln und ging
auf die Bürotür zu.
    »Ich? Aber... halt! Das geht
doch nicht!« sagte Delia nun zu Mr. Pomfret gewandt, der angesichts der
Aufregung vor seiner Tür sein Zimmer verlassen hatte. »Er hat eine streunende
Katze mitgebracht! Ich kann hier doch keine Katze haben!«
    »Langsam, langsam, Ihnen fällt
schon etwas ein«, sagte Mr. Pomfret gutgelaunt. »Miss Grinstead war in ihrem
vergangenen Leben nämlich eine Katze, müssen Sie wissen«, erklärte er Pete.
    »Tatsächlich«, sagte Pete.
Beide Männer gingen ins Büro, und Mr. Pomfret schloß die Tür.
    Die nächste halbe Stunde
arbeitete Delia und hielt dabei ein Auge auf den Heizkörper. Sie beobachtete,
wie sich der grauschwarze Tigerschwanz hinter einer Heizungsrippe entringelte
und im Trocknen bauschte. Sie fühlte sich beobachtet.
    Als Pete wieder auftauchte,
sagte sie: »Vielleicht gehört die Katze jemandem. Haben Sie daran schon
gedacht?«
    »Das bezweifle ich«, antwortete
er. »Sie hat kein Halsband.« Wieder wedelte er neckisch mit seinen Fingern und
verschwand. Als die Tür hinter ihm zuschlug, zuckte der Schwanz.
    Delia stand auf und ging ins
Büro. »Verzeihung«, sagte sie.
    Mr. Pomfret sagte: »Hm?« Er
hockte schon wieder vor seinem Computer. Er hatte an diesem Morgen die Funktion
Search-and-Replace entdeckt, und das war offensichtlich aufregend. Tap-tap gingen
seine Finger, während er sich vor dem Bildschirm den Hals verrenkte.
    »Mr. Pomfret, diese Katze
steckt immer noch unter der Heizung, und ich kann sie nirgends mitnehmen! Ich
habe ja nicht einmal ein Auto!«
    »Vielleicht nehmen Sie einen
Karton aus dem Vorratsschrank«, sagte er. »Verdammt!« Er schlug mehrere Tasten
hintereinander an. »Sie kümmern sich schon darum, Miss Grinstead? Seien Sie so
nett.«
    »Ich habe nur ein

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