Kleine freie Männer
Gehirn ohne Herz. Du hast nicht einmal geweint, als Oma Weh starb. Du denkst zu viel, und jetzt hat dich dein ach so kostbares Denken im Stich gelassen. Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich dich einfach töte, meinst du nicht?«
Nimm einen Stein!, riefen die Dritten Gedanken. Schlag sie!
Tiffany bemerkte andere Gestalten in der Düsternis. Einige von ihnen stammten aus den Sommerbildern, aber sie sah auch Trome, den kopflosen Reiter und die Hummel-Frauen.
Um sie herum kroch Raureif über den Boden.
»Ich glaube, es wird uns hier gefallen«, sagte die Königin.
Tiffany spürte, wie ihr die Kälte durch die Beine kroch. Ihre Dritten Gedanken schrien heiser vor Anstrengung: Tu
etwas!
Sie hätte alles besser organisieren sollen, dachte sie matt. Sie hätte sich nicht allein auf Träume verlassen sollen. Oder... vielleicht hätte ich ein richtiger Mensch sein sollen. Mit mehr... Gefühl. Aber ich... konnte einfach nicht weinen! Die Tränen... kamen nicht! Und wie kann ich aufhören zu denken? Und übers Denken nachzudenken? Wie soll ich auch nur aufhören daran zu denken, übers Denken nachzudenken?
Sie sah das Lächeln in den Augen der Königin und dachte: Welche von all den Personen, die hier denken, bin ich?
Habe ich überhaupt ein richtiges Ich?
Wolken glitten wie Flecken über den Himmel, und das Licht der Sterne verschwand hinter ihnen. Es waren die tintenschwarzen Wolken aus der kalten Welt, die Wolken der Albträume. Es begann zu regnen, und mit dem Regen kam das Eis. Wie Geschosse trafen Regentropfen und Eisbrocken auf den Boden und verwandelten ihn in kreidigen Schlamm. Der Wind heulte wie ein Rudel Todeshunde.
Es gelang Tiffany, einen Schritt vorzutreten. Der Schlamm saugte an ihren Stiefeln.
»Oh, ein wenig Temperament?«, fragte die Königin und wich zurück.
Tiffany versuchte, einen weiteren Schritt vorzutreten, aber es funktionierte nicht mehr. Sie fror zu sehr, war zu müde und fühlte, wie sich ihr Selbst auflöste...
»Wie traurig, so zu enden«, sagte die Königin.
Tiffany fiel nach vorn in den gefrierenden Schlamm.
Es regnete noch stärker, und die Tropfen stachen wie Nadeln, hämmerten ihr auf den Kopf und rannen wie eisige Tränen über ihre Wangen. Der Regen fiel mit solcher Wucht, dass Tiffany der Atem stockte.
Sie spürte, wie die Kälte die ganze Wärme aus ihr absaugte. Und das war die einzige Wahrnehmung, abgesehen von einem musikalischen Ton.
Er klang wie der Geruch von Schnee oder das Funkeln von Raureif. Er war hoch und dünn und lang gezogen.
Tiffany fühlte den Boden nicht mehr, und es gab nichts zu sehen, nicht einmal die Sterne. Die Wolken bedeckten alles.
Ihr war so kalt, dass sie weder die Kälte fühlte noch ihre Finger. Ein Gedanke schaffte es, durch ihr gefrierendes Bewusstsein zu kriechen. Gibt es mich überhaupt? Oder träumen meine Gedanken nur von mir?
Die Schwärze wurde tiefer. Die Nacht war nie so schwarz gewesen, und der Winter nie so kalt. Es war kälter als der
tiefste Winter, wenn der Schnee kam und Oma Weh von Schneewehe zu Schneewehe stapfte, auf der Suche nach warmen Körpern. Die Schafe konnten den Schnee überleben, wenn der Schäfer klug war, hatte Oma Weh gesagt. Der Schnee hielt die Kälte fern. Die Schafe überlebten in warmen Hohlräumen unter Dächern aus Schnee, während darüber bitterkalter Wind wehte und ihnen nichts anhaben konnte.
Aber dies war die Kälte jener Tage, an denen es so kalt wurde, dass kein Schnee fallen konnte, und der Wind war die Kälte selbst und blies Eiskristalle über die Wiesen. Auf diese Weise kam der Tod zu Beginn des Frühlings, wenn die Lammungen begonnen hatten und der Winter noch einmal heulend zurückkehrte...
Überall war Dunkelheit, kalt und ohne Sterne.
In der Ferne flackerte ein Lichtfleck.
Ein Stern. Tief. Und er bewegte sich...
Er wurde größer in der stürmischen Nacht.
Im Zickzack kam er näher.
Stille bedeckte Tiffany und zog sie in sich hinein.
Die Stille roch nach Schafen, Terpentin und Tabak.
Und dann... entstand Bewegung, als fiele Tiffany ziemlich schnell durch den Boden.
Und sanfte Wärme. Und für einen Moment das Geräusch von Wellen.
Und die eigene Stimme, im Innern ihres Kopfes.
Dieses Land ist in meinen Knochen.
Land unter der Welle.
Weiße.
Das Weiße fiel durch die warme, schwere Dunkelheit um Tiffany herum wie Schnee, aber so fein wie Staub. Irgendwo unter ihr sammelte es sich an.
Ein Geschöpf wie ein Eichhörnchen mit vielen Tentakeln sauste an ihr vorbei und
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