Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Sohn eines wohlhabenden Bauern versucht, sich ritterlich zu benehmen, wird aber bloß zum Räuber. Der Text steht der gesellschaftlichen Realität sehr viel näher als die beiden anderen genannten Satiren. Die Bauern an sich, soweit sie sich in das gesellschaftliche Rollenschema fügen, kommen gar nicht so schlecht weg. Andererseits aber werden Elemente der Adelskultur gekonnt und auf eine Weise hervorgehoben, die nur Gebildete nachvollziehen konnten. Der Autor spart dabei nicht an Kritik am Sittenverfall:
Swer liegen kan, der ist gemeit, triegen, daz ist hövescheit,
wer lügen kann, der freut sich des Lebens, Betrug, das ist Hofkultur (1007f.).
Vermittlung und Publikum
Es ist Winter im Norden Frankreichs, und es stürmt und regnet fürchterlich. Der junge Graf Arnold von Guînes sitzt wegen des Unwetters schon zwei Tage in Ardres, wenig südlich von Calais, mit seinen Gefolgsleuten fest. Darunter sind einerseits junge Leute, mit denen er Spaß hat, aber auch alte, die ihm von Aventüren, Geschichten und Geschichte erzählen. Man hat schon alle Themen durch, von den römischen Kaisern und den Kreuzfahrern bis zu Roland, Tristan und König Artus.
Jetzt will der junge Graf Geschichten von jenen Vorfahren hören, die Stadt und Kloster Ardres gründeten. Einer seiner
familiares,
Vertrauten, ein alter Mann, legt die rechte Hand an den Bart, streicht darüber, hebt an zu erzählen, wie er es von seinen Verwandten gehört habe, und das Heulen des Windes lässt nach:
Fuit quidam
…, es war einmal einer … Der fiktive Erzähler in der von Lambert von Ardres († nach 1203) verfassten Chronik ist selbst angeblich ein illegitimer Spross dieses Hauses.
Der Vater des Grafen Arnold, der den flandrischen Traditionsnamen Balduin trug († 1205), war ein bemerkenswerter Mann gewesen. Er war nicht nur klug
(prudens
) in weltlichen Dingen, Ratgeber des französischen wie des englischen Königs und ein leidenschaftlicher Jäger, nicht nur nach Schürzen, sondern auch weise
(sapiens).
Er war Laie und
illiteratus,
ging also wie Wolfram von Eschenbach nicht selbst mit Geschriebenem um (vgl. S. 72). Er hatte daher kaum eine Ahnung von den
artes liberales,
den Künsten der Freien (S. 99), wie sie in den Schulen und Universitäten gelehrt wurden. Aber er war für Kleriker, die ihn sehr respektierten, ein interessierter Zuhörer und Gesprächspartner. Von ihnen, heißt es in der Chronik, nahm er das Gotteswort auf und ihnen teilte er im Gegenzug mit, was er von den Erzählern an weltlichen Liedern hörte.
Diese Geschichte ist die lebendigste Schilderung der mittelalterlichen Adelskultur, die sich erhalten hat. Zu den Themen, die Adeligen vorgetragen wurden, gehörte also die Geschichte der eigenen Familie. Die Genealogie hatten sie vermutlich schon als Kinder auswendig gelernt. Dann folgt die «große» Geschichte von Herrschern und Heroen. Geistliche machten sie mit den wichtigsten Inhalten des Christentums vertraut. Diese Geistlichen wiederum bekamen ihrerseits die weltlichen Geschichten zu Gehör und nicht selten den Auftrag, sie zu bearbeiten und aufzuzeichnen, wie es z.B. mit dem Zyklus des Prosa-Lancelot (S. 77) geschah.
Eine Kulturlandschaft in der Provinz
Nun könnte man fragen, wie repräsentativ dieser Beleg für andere Teile Europas sein kann. Immerhin stammt er aus einer Region, die ein politisches und ökonomisches Drehkreuz der damaligen Zeit darstellte. Bei der Beantwortung helfen uns Bilder auf den Burgen weiter. Ein Fund aus jüngster Zeit ist besonders aussagekräftig.
In einem winzigen Nest namens Winkl in Niederösterreich stehen bei Kirchberg am Wagram die Überreste der namengebenden Burg der Herren von Winkl. Diese Familie spielte im 12. und13. Jahrhundert recht erfolgreich in der Politik auf mittlerer Ebene im Kernland des österreichischen Herzogtums mit, so wie die Grafen von Guînes in ihrem Beziehungsgeflecht zwischen den Grafen von Flandern, den englischen und den französischen Königen.
Dort wurden an der Außenseite der ehemaligen Burgkapelle Freskenreste entdeckt: eine recht gekonnte Darstellung des Sündenfalls und eine Reiterfigur, die, wie man heute nur mehr in ultraviolettem Licht erkennt, einen Pfeil in der Ferse stecken hat, also nur ein Bild des Achilles sein kann. Dieser entführt auf dem Fresko gerade eine kaum mehr erkennbare Frauenfigur, wohl Chryseis. Diese Entführung hat in der antiken Sage über das Heer der Griechen vor Troja furchtbares Unglück gebracht.
Die Fresken werden auf
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