Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Fresko entlang, treten die Szenen nacheinander wie in einem Film hervor. So werden mittelalterliche Fresken «lesbar» wie ein Geschichtenbuch. Sie waren unter anderem eine «Biblia pauperum», die Bibel für die Analphabeten;
pauper
heißt hier nicht arm an Mitteln, sondern arm an Wissen.
Um den Innenraum einer Kirche lesen zu können, muss man beachten, dass die Hauptperson Christus ist, symbolisiert durch den Altar. Daher wird «rechts» und «links», vor allem bei Bildwerken um den Altar, von Christus aus gesehen und nicht vom Publikum aus. Wo das Evangelium gelesen wurde und wird, ist «rechts», die Epistelseite «links». Die wichtigsten Personen sitzen oder stehen also zur Rechten Christi (Abb. 15).
Auch die Himmelsrichtungen haben ihre Bedeutung. Aus dem Osten kommt das Licht, dort liegt Jerusalem. Daher sind die Kirchen, wenn irgend möglich, nach Osten hin orientiert, oft genau in die Richtung, wo die Sonne am Fest des Kirchenpatrons oder der Kirchenweihe aufgeht. Der Norden bedeutet Finsternis, daher sind dort meist die warnenden Themen zu sehen. Vom Westen her wird in gotischen Kirchen am Abend durch die Westrosette noch einmal das Allerheiligste beleuchtet.
Die «Klangräume» waren im Mittelalter überall viel schärfer akzentuiert, als wir es gewohnt sind. Es fehlte weitgehend der Grundlärm, der uns heute ständig wie ein Rauschen begleitet. Vielmehr war für die Menschen jeder einzelne Laut bedeutungsgeladen, wie vielleicht noch auf manchem Dorf, wo einzelne Geräusche leicht identifiziert und zugeordnet werden können. Bei solcher Aufmerksamkeit nehmen die Gläubigen wohl die Signale der Liturgie, Stimmen und Glocken ganz besonders deutlich wahr. Allerdings klagten viele Prediger darüber, dass die Kirchenbesucher während der heiligen Handlungen viel zu viel tratschten.
Bedeutungsvoll war der «Duftraum». Im Alltag begleiteten die Menschen zahllose Gerüche menschlicher und tierischer Herkunft, und die Luft in den meist zu engen Räumen war stickig. Es ist bezeichnend, dass in Wundergeschichten der Heilende sehr oft zunächst dafür sorgt, dass frische Luft in den Raum der Kranken kommt. Der Kirchenraum sollte schon allein durch seine Größe eine etwas bessere Luft als andere Innenräume haben. Aber vor allem herrscht darin der eigentümliche, kostbare Geruch von Weihrauch und Kerzen aus Bienenwachs. Diese Gerüche werdenin der liturgischen Handlung gezielt eingesetzt, sie setzen sich aber auch unauslöschlich an den Textilien und Einrichtungsgegenständen fest. Mittelalterliche Räuchergefäße symbolisieren nicht selten das irdische bzw. himmlische Jerusalem (Abb. 16).
Abb. 15: Die beiden Stifterabbildungen aus dem 9. Jh. in St. Benedikt
in Mals wurden an die Altarwand in dieser Anordnung gemalt, dazwischen
befindet sich ein Christusbild. Dieser ist die Hauptperson, und «rechts»
und «links» sind von ihm aus zu denken. Das heißt, der Weltliche steht zur
rechten, der Geistliche zur linken Hand Christi. Der eckige Nimbus
(«Heiligenschein») deutet darauf hin, dass beide zur Zeit der Malerei noch am
Leben waren. Bei Standesgleichheit hat im Mittelalter immer der Geistliche
den Vorrang. Hier muss also der weltliche Stifter entscheidend höherrangig
gewesen sein als der geistliche Empfänger; daher könnte es sich bei dem Mann
mit dem Purpurmantel und dem Gerichtsschwert um ein Mitglied der
Herrscherfamilie, der Karolinger handeln.
Auch bei Kirchen sollte man den Umraum nicht vergessen. Das Kirchenvolk, aber auch die Priester zur alltäglichen Liturgie, kommen durch eine Seitentür. Dementsprechend sind Gestaltung und Benennung der Seitenportale nicht zufällig. Das Westwerk stellt schon zur romanischen Zeit das umkämpfte Haupttor des himmlischen Jerusalem gegen den Feind dar. Ein Motiv an den Portalenstellt den Kampf zwischen Tugend und Laster dar, z.B. orientiert an der Schrift «Psychomachie» (Seelenkampf) des Prudentius († um 405). Im Giebelfeld über dem Türsturz (Tympanon) sitzt oft Christus als Richter. Davor fanden regelmäßig weltliche Gerichtsversammlungen statt und wurden bedeutende Verlautbarungen gemacht.
Abb. 16: Romanisches Weihrauchfass, Südtirol, 13. Jh., Privatbesitz
Zum Umraum einer Pfarr- oder Bischofskirche gehört auch der Friedhof. Diese Friedhöfe wurden zumeist erst zur Zeit der Aufklärung an den Rand der Stadt verlegt. Auf dem Friedhof stand ab dem 13. Jahrhundert manchmal ein Karner, ein Beinhaus, denn mit dem Wachsen der Siedlungen wurde der
Weitere Kostenlose Bücher