Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Zeitgenossen erschienen die Figuren, «als ob sie lebten». Die Betrachter nahmen Realität und Symbolgehalt zugleich wahr. Die Figuren erzählen Geschichten, die für uns heute oft kaum mehr lesbar sind. Manches entzieht sich, wie die berühmten Reliefs an der Kirche von Schöngrabern in Niederösterreich, selbst der Interpretation von Fachleuten. Die spätromanischen Portale zeigen mit der Kunstfertigkeit ihrer Ausführung, dass der Stilwechsel zur Gotik keine Frage des handwerklichen Könnens, sondern des Weltbildes war.
Kirchenorganisation
Schon in der Karolingerzeit wurde ein ziemlich flächendeckendes System von Diözesen, bischöflichen Zuständigkeitsbereichen, eingerichtet. Sie wurden zusammengefasst in Erzdiözesen. Der Erzbischof leitete als Vorsitzender die regelmäßigen Bischofsversammlungen. Eine durchgehende Organisation der Seelsorgekirchen sollte noch eine Zeit lang auf sich warten lassen.
Die Kirche war lange Zeit darauf angewiesen, dass auch Adelige Gotteshäuser errichteten. Die Weihegewalt von Gebäuden und Priestern blieb dennoch den Bischöfen vorbehalten. Daher waren sie nicht im Wortsinn «Eigenkirchen», aber die Geistlichen waren von den Laien unmittelbar abhängig. Erst ab dem 12. Jahrhundert können wir von einem weitgehend geschlossenen Pfarrsystem ausgehen, das mehr oder minder unabhängig von den lokalen Gewalten dem Bischof unterstand. Papst Alexander III. († 1181) gestand weltlichen Herren Patronatsrechte und -pflichten zu, die auch das Recht der Präsentation von Priestern umfassten. Manche dieser Patronate haben sogar die Reformation überstanden.
Eine Pfarre hatte das Monopol auf die wichtigsten Bereiche der Seelsorge wie Taufe, Beichte, Hochzeit und Begräbnis. Die Hochfeste wie Ostern und Weihnachten sollten nur in der eigenen Pfarre begangen werden. Ab dem 13. Jahrhundert erhielten die Bettelorden (vgl. S. 118) Sonderrechte, die ihnen erlaubten, in verschiedenen Diözesen bzw. Pfarren nicht nur zu predigen, sondern auch Beichte zu hören.
Eine neue Sicht: Gotik
Im 12. Jahrhundert wurde ein neuer Stil gefunden, der später unter dem Namen Gotik bekannt wurde. Das Wort hatte ursprünglich eine abfällige Bedeutung und wurde erst in der Renaissance vom Kunsttheoretiker Giorgio Vasari († 1574) geprägt. Es kommt von italienisch
gotico,
fremd, barbarisch. Der neue Stil ging unter anderemvon der Abteikirche in St. Denis – damals bei, heute in Paris – aus, wo sich seit dem Ende des 10. Jahrhunderts auch die Grablege der französischen Könige befand. Er hatte sowohl einen praktischen als auch einen spirituellen Hintergrund.
Abb. 18: Stützpfeiler von St. Denis
Die praktische Seite bestand in der Möglichkeit, mit neuer Technik größere Kirchen zu bauen. Schon Abt Suger von St. Denis, der den Neubau der Abteikirche ausführen ließ, hatte Probleme, die richtigen Balken für die Eindeckung seiner sakralen Bauvorhaben zu finden. Mit dem Öffnen der Wände, den Strebe- und Stützpfeilern und damit einem ausgeklügelten System der Lastablenkung gelang es, große Höhen zu erreichen und weite Räume zu überspannen.
Die Entwicklung dieses neuen Baustils fällt in eine Zeit der spirituellen Reform des Christentums und spiegelt diese in allenDetails wider. Eine gotische Kathedrale ist wie eine Predigt, vom Portal über die vielfarbigen Fenster bis zur himmelstrebenden Höhe. Sie nimmt das städtische Publikum nicht nur in sich auf, sondern beherrscht mit ihren hohen Türmen auch die Silhouette einer Stadt. Die Bürger haben sich auf vielfältige Weise an Bau und Erhaltung der Kathedralen beteiligt, wie man in Kirchenrechnungen und an Stiftungen wie die der Glasfenster in Chartres (1. Hälfte des 13. Jh.s), z.B. im nördlichen Chorumgang, sehen kann.
Im späten 12. und im 13. Jahrhundert standen so mehrere Generationen lang zwei architektonische Sprachen gleichzeitig zur Verfügung. Viel zur Verbreitung der Gotik haben die Zisterzienser beigetragen, die durch ihren Kontakt zu den französischen Mutterklöstern Ideen und handwerkliches Können aus dem Westen über ganz Europa verbreiteten. Für die Pastoral, die Seelsorge, der Bettelorden waren die gotischen Hallenkirchen ideal. Bis weit ins 16. Jahrhundert breitete sich der gotische Stil bis in die kleinsten Dorfkirchen aus, während der Stil der Renaissance nördlich der Alpen nur schwer und teilweise Fuß fassen konnte.
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