Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
den Anfang des 13. Jahrhunderts datiert, und zu diesem Zeitpunkt gibt es weit und breit keine deutsche Fassung der Trojaner-Sage. Zwar hat einer der Herren von Winkl an einem Kreuzzug teilgenommen. Aber es ist eine Sache, unterwegs unbekannte, aufregende Geschichten zu hören, und eine andere, einem Künstler den Auftrag zu geben, eine Szene daraus an die Wand zu malen. Der Künstler hat Achilles nicht zum Ritter gemacht, sondern ihn antikisierend gestaltet, mit nacktem Oberkörper. Im Unterschied zu den Figuren von Adam und Eva, die routiniert gezeichnet sind, musste er bei dieser Szene mehrfach herumprobieren – die Vorzeichnungen sind heute sichtbar –, besonders beim fliehenden Pferd, bis er und der Auftraggeber hinreichend zufrieden waren. Damit ist die bewusste Intention für diesen Auftrag noch einmal unterstrichen. Wenn man sich so ein Motiv an die Außenwand einer Burgkapelle malen lässt, will man damit repräsentieren, d.h., man denkt an ein Publikum, das ein solches Bildprogramm zu schätzen weiß.
Es fügen sich weitere erhaltene Quellen wie Puzzlesteine zum Bild einer lebendigen Bildungslandschaft: Wir treffen in dieser Region, unweit von Winkl, jenen Adeligen namens Konrad, der die Kindheitsgeschichte Jesu nacherzählte (S. 89), donauaufwärts am Rande der Wachau in Krems steht die vielfältig ausgestalteteGozzoburg (S. 71), donauabwärts im Gerichtsort Tulln befand sich eine Dominikanerinnenkirche, die zwar nicht mehr erhalten ist, aber rekonstruiert werden konnte. Dort stand – wie in Straßburg – eine Statue Rudolfs I. von Habsburg an der Fassade. Im nahe Tulln gelegenen Zeiselmauer bekam am 10. November 1203 Walther von der Vogelweide das Geld für den Pelzrock (S. 48), und zwar von jenem Bischof Wolfger von Passau, an dessen Hof das Nibelungenlied aufgezeichnet wurde (S. 80). Damit kennen wir auch für dieses Lied einen der Publikumskreise, denn der Bischof wird auf seinen Visitationsreisen nicht bloß von Kirchendisziplin, Ökonomie und Politik gesprochen haben.
Etwa eine Tagesreise von diesem Raum entfernt wird im Waldviertel um 1200 eine Burg
de Aneschouwe
genannt, deren Name mit «Anjou» in Frankreich in Verbindung gebracht werden kann. Wie könnte man auf die Benennung nach einer so entfernten Gegend gekommen sein?
Anschewîn,
aus Anjou, ist der Vater Parzivals, Gahmuret (6, 27), und auf diesen scheint der Burgname anzuspielen.
Unterhalb des Stiftes Göttweig, gegenüber von Krems, zeigt man einen «Avaturm», wo vielleicht Frau Ava am Anfang des 12. Jahrhunderts ihre schönen geistlichen Lieder dichtete (S. 87f.). Um die Mitte des 12. Jahrhunderts schrieb Heinrich von Melk, am anderen Ende der Wachau, seine scharfe Zeitkritik in einer Mahnrede über den Tod, «Von des tôdes gehugede», also
memento mori,
gedenke des Todes.
Am Ende des 13. Jahrhunderts geißelt ein unbekannter Dichter, für den man eine Zeit lang den Namen Seifried Helbling verwendete, in seinem «Kleinen Lucidarius»
des landes sit in Ôsterrîch,
die Sitten im Lande Österreich. Es ist durchaus angemessen, wenn man das 13. Jahrhundert als «Erntezeit» des Mittelalters bezeichnet, und diese kulturelle Ernte fand nicht nur an den großen Höfen der Könige und Fürsten statt, sondern auch bei den Adeligen auf dem Land. Aus diesem Kreis also kommen die Leute, von denen man sich am jungen Wiener Hof nicht ohne Neid absetzen wollte,indem man sie in den Liedern Neidharts als «Bauern» verspottete (S. 90f.).
Eine ähnliche Dichte an kultureller Rezeption könnte man wohl in vielen anderen Regionen Europas finden. Von Bischof Gunther von Bamberg († 1065) und seiner Umgebung heißt es z.B. in einem zeitgenössischen Brief: «Was aber macht unser Herr? … O armes und bedauernswertes Leben eines Bischofs, o Sitten! Niemals lässt er Augustinus, niemals Gregor den Großen lesen, immer lässt er (über) Attila oder Amelung [Dietrich von Bern] oder etwas dergleichen vortragen.»
Im Zweiten Mittelalter wurde die Herstellung von Handschriften preisgünstiger. Das hat nicht nur mit einem durch bessere Bildungsmöglichkeiten vermehrten Interesse zu tun, sondern mit einer gewerblichen Produktion auch außerhalb geistlicher Institutionen. Durch den gestiegenen Fleischkonsum in den Städten wurden außerdem die Tierhäute für das Pergament billiger.
In weiten Kreisen der Bevölkerung wurde die Kultur weiterhin mündlich im Rahmen einer Vorlesekultur weitergegeben. Nur gelegentlich gelangten ihre Inhalte –
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