Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Weltbild
Der Begriff «Landschaft» als «vom Menschen als solches wahrgenommenes Gebiet, dessen Charakter das Ergebnis des Wirkens und Zusammenwirkens natürlicher und/oder anthropogener Faktoren ist» (Europäische Landschaftskonvention) wurde erst seit dem 16. Jahrhundert geläufig. Bis dahin betrifft das Wort zumeist, wie schon die Brüder Grimm bemerkten, «die gesamtheit der vornehmen, der landherren, im gegensatz zu volc»; sie zitieren Gottfrieds Tristan:
Nu daz der dritte tac dô wart,
dô kam al diu lantschaft
und volkes ein sô michel craft,
daz der stat bî dem mer
aller bevangen was mit her.
Als der dritte Tag da anbrach,
da kam die ganze Ritterschaft
und so viel Volkes,
dass die Stätte am Meer
ganz voller Menschen war.
Gottfried, Tristan 6496-6500
Aber zahlreiche Beispiele des Landeslobes – das lateinische Fachwort für den idealisierten Ort heißt
locus amoenus,
reizender Ort – beschreiben, anknüpfend an antike Vorläufer, was Menschen von einem Land erwarteten. Ein relativ frühes, für spätere Autoren sehr einflussreiches Beispiel ist das Landeslob des Angelsachsen Beda Venerabilis († 735):
Optima frugibus atque arboribus
insula [Brittania] et alendis apta
pecoribus ac iumentis, vineas etiam
quibusdam in locis germinans, sed et
avium ferax terra marique generis
diversi, fluviis quoque multum piscosis
ac fontibus praeclara copiosis;
et quidem praecipue issicio abundat
et anguilla. …
Habet fontes salinarum, habet fontes
calidos … Quae etiam venis
metallorum, aeris, ferri, plumbi et
argenti fecunda gignit et lapidem
gagatam …
Die [britische] Insel ist reich an
Früchten und Bäumen und zur
Haltung von Haustieren und Vieh
geeginet, sie bringt an einigen Orten
Weinreben hervor, ist aber auch zu
Lande und zu Wasser reich an Vögeln
verschiedener Art und berühmt für
sehr fischreiche Flüsse und ergiebige
Quellen; sie hat vor allem Salm und Aal
im Überfluss. … Sie hat Salzquellen,
hat auch warme Quellen … und ist
auch reich an Erzadern, Kupfer, Eisen,
Blei und Silber und bringt Gagat
hervor …
Beda, Historia I 1, 26,
Übersetzung nach Spitzbart
Dieser kleine Ausschnitt zeigt den mehrfach gelenkten Blick des Autors. Er war mit sieben Jahren in ein Kloster gekommen und blieb von seinem zehnten Lebensjahr bis zu seinem Tod in St. Paul in Jarrow bei Newcastle upon Tyne. Seine Welt war die der Bücher und nicht des eigenen Erlebens. Er wollte schildern, wie viel seine Heimat mit den Ländern der Antike gemeinsam habe. Dennoch erschien das von ihm gezeichnete Bild seinen Lesern nicht gänzlich als irreal, denn in diesem Fall wäre der Text nicht überliefert. Er lenkte seinerseits den Blick anderer und fand viele Nachahmer.
Fragt jemand, was vom Mittelalter geblieben ist, werden die meisten zuerst an Kirchen und Museen, Ruinen und andere Überreste denken, dann vielleicht an Schöpfungen der Dichtung und Geisteskultur und schließlich an moderne Vorstellungen in Zusammenhang mit Gegenwartsflucht, Romantik und Aufklärung. Kaum jemandes Blick wandert zum Fenster hinaus. Dorthin möchte ich nun den Blick der Leserinnen und Leser lenken, um einiges zu zeigen, was im Mittelalter zum ersten Mal oder wenigstens neu geformt worden ist. Das mag auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen angesichts der Regulierungen und Anpassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, der tief eingreifenden Agrarreform des Barock und der bewussten Landschaftsgestaltung der Renaissance.Aber zuletzt wurde der Blick der Forscher geschärft: Die ökologischen Probleme der jüngsten Zeit zwangen uns vermehrt, zu den Anfängen der mitteleuropäischen Kulturlandschaft zurückzuschauen.
Römisches Erbe
Von «Anfängen» zu sprechen, ist in der Geschichtswissenschaft immer problematisch: Sogleich wird ein Fachmann für die Zeit davor mit Recht betonen, in «seiner» Zeit sei mindestens ebenso Bedeutsames geschehen. Das trifft für die Römerzeit in vielen Teilen Europas zweifellos zu. Die Ausbeutung ganzer Landstriche im Süden, nicht zuletzt durch die Bedürfnisse der römischen Armee und durch die arbeitsteiligen Monokulturen ist, z.B. im Karst, nie wieder gutzumachen. Die Kornkammer des Römischen Reiches in Nordafrika wurde nie mehr rekonstruiert. Die systematische Bewässerung anderer Gebiete, in den Alpen z.B. die Waale im Vinschgau (von
aquale,
Wasserlauf), hat den Menschen Lebensräume erschlossen, um die wir heute wieder kämpfen.
In Gebieten mit besonders starker romanischer Tradition sind teilweise die
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