Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
d.h. wieder mit den Tugenden des Standes versehen, heraus. Dort irrt einer herum, wenn er den Verstand verliert (Iwein, S. 77); dort finden sich Riesen, Zwerge, Drachen und Räuber, gegen die man kämpfen muss, um sich als Ritter zu beweisen. Dort treffen sich die Paare und finden Erfüllung ihrer verbotenen Liebe (Tristan, S. 81).
Die eigentliche Wildnis ist je nach Gegend und Klima grundverschieden. Sie reicht von dornigem Gestrüpp bis zu Baumgruppen mit hohem Laubanteil, sehr oft mit sumpfigen Abschnitten. Den meisten Menschen machte das Angst. Gefährlich waren nicht so sehr die Tiere, die selten Menschen angreifen, gefährlich waren die «Räuber». Denn die Wildnis ist gesetzlos, eben unzivilisiert. Selten waren sie ohne Grund zu Räubern geworden, sondern vielmehr durch Schicksalsschläge aus dem sozialen Netz gerissen.
Ein «erfolgreicher» Einsiedler geht in die «Wüste», und man hört nichts mehr von ihm. Aber schon Augustinus kritisiert den radikalen Anachoreten: «Du verlässt die menschlichen Dinge, und du sonderst dich ab. Wem wirst du von Nutzen sein? … Glaubstdu, weil du rasche Beine hast, die Brücke zu überschreiten, du dürftest sie abbrechen?» (Comm. in Ps. 99, 9). Die Einsiedler, von denen positiv berichtet wird, bleiben Bezugspersonen für Menschen innerhalb der Zivilisation, die sie aufsuchen, ihren Lehren zuhören, sie versorgen oder sich in ihrer Nähe niederlassen, weil der stetige Pilgerstrom ein gutes Auskommen bietet. Ganze «Städte» können daraus entstehen, wie Glendalough in Irland, wohin sich der heilige Kevin zurückzog.
Das werdende Land
Was ist, im Gegensatz zur Wildnis, nun ein «Land» im Mittelalter? Erst im Rahmen der «Territorialisierung» im 12. Jahrhundert verschmolzen allmählich die einzelnen Elemente von Landschaft, Kirche und Herrschaft zu einem geographisch umgrenzbaren Raum. Wie sah es vorher aus?
Netzwerke
Es ging weniger um Territorien als um zwischenmenschliche, ökonomische und machtpolitische Netzwerke. Solche sozialen Netze gibt es heute noch, neben, über und unter der institutionell organisierten Gesellschaft. Die Netzwerke im Ersten Mittelalter wurden von adeligen Familien durch gezielt hergestellte Verwandtschaftsbeziehungen gestärkt, bzw. ergaben sich daraus.
Über der sehr locker, manchmal fast inselartig besiedelten Landschaft lag ein komplexes Gefüge von Herrschaft und Besitz. Wie im Kleinen jeder Bauer sich bemühte, an allen Fluren, die in seiner Umgebung für die eine oder andere Bewirtschaftung besonders günstig waren, seinen Anteil zu haben, so suchten die Adeligen, sich weit verstreut dort Besitz und Herrschaftsrechte zu verschaffen, wo sie bestimmte Produkte erwarten konnten oder aus politischen Gründen präsent sein wollten.
Dasselbe trifft auf die geistlichen Herren zu, die auch außerhalb ihrer Diözesen Besitz hatten. Besonders begehrt waren Weingüter (vgl. S. 27), zu denen sich die Kirchenfürsten meist auch die nützlichen Zollfreiheiten zu beschaffen wussten. Es konnte zudem im Interesse der hohen Politik stehen, bestimmte Regionen geistlichen Herren anzuvertrauen. Erwähnt habe ich schon die Klöster, die Alpenein- und -übergänge hüteten (S. 122). Leicht einzusehen ist, dass Bistümer wie Salzburg, Chur, Brixen oder Trient ihre Bedeutung auch eben diesen Alpenübergängen verdankten. Es mag etwas überraschend sein, wenn man anhand der weit verstreuten Besitzungen des 1007 von Kaiser Heinrich II. gegründeten Bistums Bamberg bemerkt, dass dieses offenbar nicht nur als «Missionszentrum» in Richtung Nordosten dienen sollte, sondern auch ungeschützte Wege nach dem Süden anvertraut bekam: Man findet Bamberger Besitz im oberösterreichischen Alpenvorland und vor allem in Kärnten an den Straßen ins Kanaltal nach Friaul, zum Predilpass zwischen Italien und Slowenien, zum Wurzenpass über die Karawanken und südlich davon.
Das «Land» war also zunächst ein vielfältiger Aktionsraum von Personen, und wo diese einander trafen, war es – in einem wörtlichen Sinn – präsent. Die Nähe zum Fürsten oder König bestimmte in diesem Personenverband den Rang. Für ihre aktuelle Politik waren Könige und Fürsten abhängig von der Mitwirkung der adeligen Hauptakteure. Ihre Macht war daher auch ganz wesentlich davon bestimmt, wo sie selbst das Sagen hatten: innerhalb ihrer eigenen ökonomischen und personalen Netzwerke, also dem Bereich, den man später häufig unter der Bezeichnung «Hausmacht»
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